Weihnachtsgeschichten aus der Apotheke
HERZILEIN, DU DARFST NICHT TRAURIG SEIN
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Ich hatte überhaupt keine Lust zu arbeiten – aber wer hat das schon am Vormittag des 24. Dezember. Zuhause warteten Mann und Kinder, der Baum stand bereits geschmückt an seinem Platz und der Dackel saß erwartungsvoll davor, denn er würde heute Abend ein Stück Fleischwurst in Zeitungspapier bekommen, das war jedes Jahr so. Alle hatten frei, bloß ich nicht. Das fand ich sehr ungerecht, aber Arbeit ist Arbeit.
Mein Mann war verstimmt; er wusste, ich konnte nichts dafür, aber trotzdem… Die Kinder heftig in der Pubertät. Ich hatte schlecht geschlafen und überlegte heute zum ersten Mal, ob PTA denn wirklich so ein toller Beruf ist.
Die Kunden kamen manchmal mit ihren Rezepten – aber vor allem suchten sie noch schnell was für die Bescherung. Am 24. Dezember, da machten wir mit Knoblauchsaft in der Riesenflasche immer Rekordumsätze. Es war damals das ultimative Last-Minute-Geschenk für die ältere Generation, nachdem Melissengeist ein wenig aus der Mode gekommen war. Wobei „Können Sie das noch schnell einpacken?“ ebenfalls zur meistgestellten Frage des Tages gehörte.
Meine Kolleginnen huschten um mich herum. Wir hätten gern mal ein Glas Sekt im Backoffice getrunken, aber das war nicht drin. Zuviel zu tun. Ich linste immer wieder auf die Uhr. Bis 12 musste ich noch durchhalten, dann ging es endlich nach Hause. Ich fand heute alles doof: Die Kunden mit ihren Ansprüchen („Nein, ich will die rot-weiße Packung, nicht die blaue!!!!“), das ständige Auffüllen der Sichtwahl mit Ibuprofen (wer Alkohol nicht verträgt, sollte nicht so viel davon trinken!!) und den alten Herrn, der beinahe täglich seinen speckigen Cordhut lüpfte, damit ich seinen Kopfgrind begutachten sollte. Auch Blutdruck messen auf der Bank vor dem HV gehörte dazu - musste das denn unbedingt heute sein? Ich fand mich selbst unfreundlich, geistesabwesend. Eigentlich bin ich das nicht. Ich arbeite gern in der Apotheke – eigentlich.
Gegen Ende der Öffnungszeit kam ein älterer Mann herein. Er trug einen grauen, etwas längeren Bart, hatte einen Kugelbauch. Das sah ein bisschen komisch aus, denn er war klein von Gestalt. Trug noch dazu ein Trachtenhemd, in rot weiß. Wadenlange Lederhosen dazu und Schnürschuhe. Die Haare standen ihm flusig vom Kopf ab. Mit dem Bauch, seiner Kleidung und dem faltigen, netten Gesicht sah er ein bisschen aus wie der Weihnachtsmann.
Als er vor mir stand und sagte, was er wollte, dachte ich: Woher kennst du den bloß? An irgendjemanden erinnerte er mich, aber ich wusste nicht, an wen.
Was er kaufte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß aber, dass ich mich zusammenriss, ihn freundlich anlächelte, das Gewünschte holte, kassierte und ihm frohe Weihnachten wünschte. Er erwiderte das mit einer schönen sonoren Stimme, die klang wie ein Kuschelmoderator auf Kanal vier. Ich weiß noch, dass mir das auffiel. Er machte eine kleine Pause und sah mich mit gütigen Augen an.
Kennt ihr das? Wenn euch ein Blick durch Mark und Bein geht? Wenn man sich fühlt, als könne der andere Gedanken lesen und einem bis auf den Grund der Seele schauen?
„Sie machen das sehr schön“, sagte der kleine Mann, lächelte und nahm sein Medikament in die Hand. Und dann ging er.
Ich – ähm – fühlte mich gleich viel besser, obwohl ich es gar nicht verdient hatte.
Dann sah ich, dass meine Kolleginnen miteinander tuschelten. Sie standen am Approbiertenplatz und fuchtelten mit den Händen, steckten dabei die Köpfe zusammen. Sie winkten mich heran.
„Weißt du, wer das war?“ sagte eine aufgeregt.
„Nö“, antwortete ich.
„Das war der Kleine von den Wildecker Herzbuben!“
Das waren so folkloristische Schmusesänger, er hatte bestimmt irgendwo einen Auftritt gehabt. Also daher kam das Outfit. Mit viel Mühe fiel mir ein Lied ein, irgendwas mit Herzilein.
Es war also gar nicht der Weihnachtsmann gewesen. Aber ich schwör’s, er sah genauso aus.
Die Weihnachtsgeschichten vom 24. und 25. finden Sie hier: