Weihnachtsgeschichten aus der Apotheke
DAS SCHÖNSTE WEIHNACHTSGESCHENK
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Das erste Mal, das ich an Heiligabend arbeiten musste, war im Praxishalbjahr der PTA-Ausbildung. Ich hatte schon üble Laune, als ich aus dem warmen Bett ins kalte Bad ging und meine Familie noch schlief, ich hatte schlechte Laune, als ich auf dem Weg zur Apotheke durch die Stadt fuhr und außer ein paar frühmorgendlichen Einkaufswütigen niemand auf den Straßen war, und ich hatte schlechte Laune, als ich meinen Wintermantel gegen den Kittel tauschte, mein Namensschild anpinnte und mir überlegte, dass meine Familie jetzt wohl so langsam den Frühstückstisch decken und danach den Baum schmücken würde.
Unter den Kunden ging es wohl einigen ähnlich wie mir, die meisten waren aber ausgesprochen fröhlich und dankbar, so kurz vor den Feiertagen noch dringend Benötigtes ergattern zu können. Das linderte meinen Missmut etwas.
Schlagartig vorüber war er dann, als meine PKA-Kollegin federnden Schritts aus ihrem Büro kam und – vor unterdrückter Aufregung schon ganz rot – meinte: „Du errätst nie, was ich gerade in der Probelieferung hatte.“ Wir hatten nämlich beschlossen, im neuen Jahr bei einem weiteren Großhändler zu bestellen, und durften vorab einmal ordern, um das Prozedere zu testen. Am Vorabend hatte meine Kollegin also ein Dutzend Flaschen Hustensaft in den Bestelltopf geworfen und obendrein unsere komplette Defekte-Liste freigestellt. Und das hatte sich offenbar gelohnt.
Denn seit Wochen versuchten wir für eine Kundin ein Krebstherapeutikum zu besorgen. Wir hatten unsere beiden bisherigen Großhändler abgefragt, uns direkt an den Hersteller gewandt sowie alle Apotheken im engeren und weiteren Umkreis abgeklappert, aber ohne Erfolg. Es gab keine Restbestände und noch keine neue Ware, keine Generika und auch die Klinik, die die Kundin behandelte, hatte nichts mehr an Lager. Die Kundin war schon arg verzweifelt, sie hatte gerade vor zwei Tagen berichtet, dass sie jetzt eine andere, aber weniger erfolgsversprechende Therapie erhalten sollte.
Und nun das. Da lag die Packung in der violetten Wanne, einfach so. Der neue Großhändler musste sie irgendwo aus dem hinterletzten Regal gekramt haben. Meine Kollegin stellte das Telefon laut, als sie bei der Kundin anrief, um ihr die gute Nachricht zu überbringen. Ihr Mann ging ran, und der sonst so rüstige Rentner flüsterte nur: „Ich bin gleich da.“
Keine zehn Minuten später stürmte an seiner Hand sein etwa vierjähriger Enkel in die Offizin und verkündete der Schlange der wartenden Kunden (und seiner Lautstärke nach vermutlich auch der halben Straße): „Wir sind da um die Medizin für die Oma zu holen! Der Opa sagt, jetzt wird alles gut, weil ja auch Weihnachten ist!“
In den Jahren danach fiel es mir viel leichter, an Heiligabend zu arbeiten. Wer weiß schon, ob nicht irgendwo wieder so ein Weihnachtswunder wartet?
Nicht verpassen: Morgen gibt es eine neue Weihnachtsgeschichte aus der Apotheke!