Schmerzzustände
EINSATZ VON ANTIDEPRESSIVA NUR BEDINGT SINNVOLL
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Ein Team um Dr. Giovanni Ferreira von der University of Sydney in Australien hat sich die Entwicklung der Verordnungshäufigkeit dieser Arzneistoffklassen genauer angesehen. Neben der zu erwartenden Zunahme haben die Forscher*innen weiter herausgefunden, dass sich innerhalb der OECD-Staaten der Einsatz von Antidepressiva zwischen 2000 und 2015 verdoppelt hat.
Ferreira und sein Team sehen den weit verbreiteten Off-Label-Einsatz von Antidepressiva bei häufigen Schmerzzuständen wie Fibromyalgie, chronischem Kopfschmerz und Arthritis als einen Hauptgrund für diese Entwicklung. Wirft man einen Blick nach Großbritannien, so hat sich das National Institute for Health and Care Excellence (NICE), dass sich mitunter einen Namen durch sein evidenzbasiertes Arbeiten gemacht hat, 2021 in einem Leitfaden gegen den Einsatz jeglicher Schmerzmittel bei chronischen Schmerzen ausgesprochen. Allerdings mit einer Ausnahme: Antidepressiva.
Metaanalysen von mehr als 25 000 Teilnehmern
Um dieses großflächige Thema erneut aufzuarbeiten und eventuell neue Erkenntnisse zu gewinnen, werteten die Forscher*innen publizierte systemische Übersichtsarbeiten zwischen 2012 und 2022 aus. Im Fokus stand hierbei die Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit von Antidepressiva bei chronischen Schmerzen. In die Ergebnisse flossen insgesamt 26 Reviews und über 156 Einzelstudien mit mehr als 25 000 Teilnehmern.
Im Detail ging es bei den Arbeiten um placebokontrollierte Vergleiche von Antidepressiva aus acht Wirkstoffklassen bei 22 verschiedenen Schmerzzuständen. Allerdings waren rund die Hälfte der Studien (45 Prozent) industriegesponsert. Um eine mögliche Schmerzlinderung besser kategorisieren zu können, zog das Team eine Skala von 0 (kein Schmerz) bis 100 (stärkster vorstellbarer Schmerz) heran. Zudem wurde auch die Dosis, die Behandlungsdauer und die Anzahl der Studien beziehungsweise Studienteilnehmer berücksichtigt.
Schmerzlindernde Wirkung geringer als gedacht
Die Ergebnisse zeichnen ein klares Bild. Bei keiner einzigen Schmerzerkrankung konnte eine schmerzlindernde Wirkung von Antidepressiva mit hoher Sicherheit aufgezeigt werden. Bei neun Reviews kommt die Gruppe aufgrund von Belegen zu dem Ergebnis, dass SNRI bei bestimmten Erkrankungen wirksamer seien als Placebo.
Mit großer Sicherheit kann man dies für folgende Wirkstoffe sagen:
- Duloxetin bei chronischen Rückenschmerzen (Schmerzlinderung um durchschnittlich 5,3 Punkte),
- Duloxetin oder Venlafaxin bei postoperativen Schmerzen (-7,3 Punkte),
- Duloxetin oder Milnacipran bei Fibromyalgie (Wahrscheinlichkeit für eine mindestens 50-prozentige Schmerzlinderung um 40 Prozent erhöht) sowie
- Duloxetin, Milnacipran, Venlafaxin oder Desvenlafaxin bei neuropathischem Schmerz (-6,8 Punkte).
Eine geringe Evidenz konnte zudem für eine analgetische Wirkung von Antidepressiva bei
- Schmerzen infolge einer Aromatasehemmer-Therapie bei Brustkrebs (Duloxetin),
- bei Depression und komorbiden chronischen Schmerzen (Duloxetin, Venlafaxin, Desvenlafaxin, Paroxetin, Fluoxetin, Escitalopram),
- Kniearthrose (Duloxetin, Milnacipran),
- Reizdarmsyndrom (Amitriptylin, Nortriptylin, Doxepin, Desipramin),
- neuropathischem Schmerz (Amitriptylin, Desipramin, Imipramin, Maprotilin, Nortriptylin) und
- chronischem Spannungskopfschmerz (Amitriptylin)
festgestellt werden.
Forscher verweisen auf nuancierte Verordnungspraxis
Das Team zeigt weiter auf, dass allen Reviews für die Antidepressiva keine Wirksamkeit oder widersprüchliche Evidenz aufzeigten. Zudem waren Angaben zur Sicherheit und Verträglichkeit ungenau. Aufgrund dieser Tatsache und, weildie Wirksamkeit nur bei wenigen Wirkstoffen gezeigt werden konnte, sprechen die Forscher*innen sich für einen „nuancierten Ansatz“ aus, wenn es um die Verordnung von Antidepressiva zur Linderung von Schmerzen geht.
Auch die beiden Schmerzmediziner*innen Dr. Cathy Stannard und Colin Wilkinson tendieren in ihrem Editorial in diese Richtung. Dort heißt es, dass es für eine Vielzahl der Patient*innen, die unter chronischen Schmerzen leiden , bei einer Behandlung mit einem Antidepressivum zu einer Enttäuschung kommen wird. Eine Verordnung erfolgt durch Ärzt*innen in ihren Augen oft, weil manche Betroffenen auf die Behandlung ansprechen, wenn auch nur geringfügig.
Eine solche Vorgehensweise ist zwar nachvollziehbar, blockiert aber wiederum auch andere Ansätze, deren Wirksamkeit belegt ist und wenige potenzielle Nebenwirkungen bekannt sind. Darunter fallen beispielsweise Bewegungsprogramme und Unterstützung bei eingeschränkter Mobilität und sozialer Isolation. Sinnvoll seien in einer solchen Situation einfühlsame Ärzt*innen, zu denen die Patient*innen ein stabiles Vertrauensverhältnis aufbauen können, so die Mediziner.
Vertrauensvolles Umfeld kann Richtung vorgeben
Befinden sich Patient*in und Ärzt*in in einem solchen Vertrauensverhältnis, besteht die Möglichkeit, auch Antidepressiva bei Schmerzpatienten sinnvoll einzusetzen, erklärt Privatdozent Dr. Michael Überall, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin, gegenüber der „Berliner Zeitung“. Er macht deutlich, dass Antidepressiva keine Schmerzmittel, sondern Koanalgetika seien. Kein Schmerzmediziner verordne in Deutschland Antidepressiva als reine Schmerzmittel, so Überall.
Solche chronischen Schmerzerkrankungen stehen nicht für sich allein, sondern sind komplexe Verläufe, die wiederum in Kombination mit depressiver Symptomatik Schmerzen verstärken kännen. Dies kann in einem weiteren Schritt dann wieder auf die Stimmung schlagen. Es kommt nicht selten vor, dass auch nach Ende der körperlichen Ursachen die Schmerzsymptomatik anhält. „Antidepressiva können dabei helfen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen“, so Überall.
Quelle: Pharmazeutische Zeitung
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