„SOBALD MAN WEISS, DASS MAN AUTISMUS HAT, FALLEN DIE MASKEN“
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Soziale Anpassungsschwierigkeiten sind eines der offensichtlichsten Anzeichen für Autismus und AD(H)S. Insbesondere von Mädchen und Frauen wird aber oft noch erwartet, dass sie dem femininen Klischee entsprechen – lächeln, freundlich und gesellig sind. Viele Frauen mit Autismus oder AD(H)S maskieren deshalb, bewusst oder unbewusst, ihre neurodiversen Eigenschaften.
Darüber berichtet auch Dagmar Gläßge. Sie ist Pharmazeutisch-technische Assistentin, 45 Jahre alt und hat Asperger-Autismus. Eigentlich hätte sie sich gern auf das Interview vorbereitet, schmunzelt sie, hat aber mit Absicht nicht vorab um einen Fragenkatalog gebeten, um sich selbst zu trainieren.
DIE PTA IN DER APOTHEKE: Frau Gläßge, Sie erzählen uns heute von Ihren Erfahrungen als PTA mit Autismus, nachdem Sie den Artikel über Neurodiversität in unserer Juli-Ausgabe gelesen haben. Was denken Sie darüber, ist Autismus dort richtig dargestellt?
Dagmar Gläßge: Als Betroffene ist es immer interessant zu sehen, wie Nicht-Betroffene das Thema bearbeiten. Ich habe leider schon vieles gelesen, das ich nicht nochmal lesen möchte. Hier fand ich aber super, dass mehrere Seiten betrachtet werden, und vor allem, dass auch mal auf die weibliche Form des Autismus eingegangen wird.
Denn die meisten neurotypischen Menschen denken immer erstmal an Rainman oder Big Bang Theory, also an den männlichen Aspekt. Und nicht daran, dass es doch viele betroffene Frauen gibt.
Bei Frauen wird der Autismus oft übersehen, auch von Ärzten. Deshalb erhalten viele ihre Diagnose erst spät. Wie war das bei Ihnen?
Bei mir wurde es als Kind schon mal gemutmaßt. Im Alter von vier oder fünf hat die Erzieherin meine Mutter darauf aufmerksam gemacht. Aber ich bin heute 45; vor 40 Jahren gab es eigentlich keine Mädchen, die Autismus haben. Die Kinderärztin hat zwar auch gesagt „Man müsste das Kind mal in eine Klinik bringen um nachzugucken.“
Aber meine Eltern haben das vernachlässigt, weil ich ein friedliches, ruhiges Kind war, das nicht geredet hat, aber eigentlich keine Probleme gemacht hat. Und alles andere haben sie ausgeblendet – dass ich nie Freunde hatte, dass ich immer soziale Anpassungsschwierigkeiten hatte. Und ich habe gelernt, dass ich nirgendwo so richtig reinpasse. Ich habe gelernt, dass ich aufgrund meiner direkten Art und meiner sehr direkten Ausdrucksweise oft anecke.
Wie wurde der Autismus bei Ihnen dann doch noch entdeckt?
ch habe einen Sohn bekommen, der von Anfang an Schwierigkeiten hatte, bei dem von Anfang an klar war, dass es ein bisschen anders läuft als bei anderen Kindern. Trotzdem hat es einige Jahre gedauert, bis seine Autismus-Diagnose stand. Dann bin ich wiederum angesprochen worden, von der Kinderpsychiaterin, weil ich offensichtlich auch Auffälligkeiten gezeigt habe. Das ist erst zwei Jahre her.
Gerade bei Frauen wird ja oft erst im Erwachsenenalter klar, dass sie neurodivers sind. Denn sie maskieren im sozialen Umfeld, verstecken und überspielen ihre Eigenheiten und Schwierigkeiten. War das bei Ihnen auch so?
Ja. Aber sobald man weiß, dass man tatsächlich Autismus hat, fällt etwas ab. Die Masken fallen ein bisschen.
„Und ich habe gelernt, dass ich nirgendwo so richtig reinpasse. Ich habe gelernt, dass ich aufgrund meiner direkten Art und meiner sehr direkten Ausdrucksweise oft anecke.“
Ist das Druck, der von einem genommen wird?
Genau. Das ist richtig. Vor allem im privaten Bereich. Auf der Arbeit nicht, auf der Arbeit bleibt man souverän. Ich habe es trotzdem vor allen Kollegen kommuniziert und vor meinem Chef auch. Der hat viel geleistet, damit ich mich wohlfühle. Ich habe einen ganz tollen Chef.
Bereitet Ihnen Ihr Autismus Schwierigkeiten im Arbeitsumfeld? Vor Ihrer Diagnose, oder auch seither?
Ich habe mich beruflich in vielen Bereichen versucht. Ich war sogar einige Zeit im Außendienst, was sehr, sehr schwierig war. Ich denke, ich habe meine Arbeit gut gemacht, aber ständig auf neue Menschen zu treffen, ständige Reizüberflutung, viel im Auto zu sitzen, das hat mir nicht gutgetan. Ich bin wieder in die Apotheke zurückgegangen. Es ist dann doch einfacher, wenn man immer die gleichen Menschen um sich hat, gerade den Mitarbeiterstamm. Man lernt seine Kollegen ja kennen, das gibt Sicherheit.
„Ich kann aber gut Fehler eingestehen, das können Menschen, die neurotypisch sind, eher weniger.“
Wie ist es mit den Kunden? Haben Sie viele Stammkunden in der Apotheke, in der Sie arbeiten?
Ja. Es ist eine Kleinstadt und ich bin in der Filialapotheke mit immer den gleichen Kollegen und fast immer den gleichen Kunden. Das passt sehr gut. In einer großen Center-Apotheke oder in einer Großstadt, wo man einen extrem hohen Kundendurchlauf hat, das wäre glaube ich anstrengender für mich.
Weil man sich dann immer wieder neu auf die Personen einstellen muss?
Ja, genau. Ich habe auch noch das Problem, dass ich gesichtsblind bin, ziemlich stark sogar. Ich muss eine Person oft sehen, bevor ich das Gesicht mit dem Namen verbinden kann. Gerade mit den Masken sehen die Menschen für mich alle gleich aus. Das macht mir manchmal Schwierigkeiten.
Reagieren manche Kunden unwirsch, wenn man Sie sie nicht erkennen?
Ja, schon. Jeder erkennt mich, aber ich eben nicht jeden.
„Es ist dann doch einfacher, wenn man immer die gleichen Menschen um sich hat, gerade den Mitarbeiterstamm. Man lernt seine Kollegen ja kennen, das gibt Sicherheit.“
Gibt es noch andere Sachen, die Ihnen in der Apotheke schwerfallen?
Konflikte. Das ist für mich der schwierigste Aspekt. Also ich habe schon gelernt, mit Konflikten umzugehen: Privat reagiere ich mit Rückzug. Das kann ich natürlich vor einem Kunden nicht, ich kann ja nicht sagen „Ich gehe jetzt in den Keller.“ Da souverän zu bleiben, das fällt mir teilweise noch schwer. Ich habe meinen Filialleiter, der unterstützt mich und grätscht zum Glück auch mal rein, wenn er merkt, dass Schwierigkeiten aufkommen.
Und fällt Ihnen etwas besonders leicht; sehen Sie auch einen Vorteil darin, dass Sie Autistin sind?
Es wird ja immer behauptet, dass Menschen mit Autismus empathielos sind. Das stimmt natürlich nicht. Aber es gibt Kunden, die viel und lang über ihre Probleme reden wollen – das kann ich ruhig und sachlich über die Bühne bringen, während andere sich sehr hineinfühlen und vielleicht sogar hineinsteigern. Das zu erfassen und geebnet zu bleiben, das fällt mir leichter, weil ich mich weniger in die Leute hineinversetze.
„Ich kann selbst meinen Partner manchmal nicht richtig einschätzen, die Kolleginnen einzuschätzen fällt Menschen mit Autismus also auch schwer.“
Und wie erging es Ihnen während Ihrer PTA-Ausbildung? Damals wussten Sie ja noch nichts von Ihrem Autismus, aber wie schätzen Sie die Zeit im Rückblick ein?
Ich hatte relativ wenig Kontakt zu meinen Mitschülerinnen. Es bilden sich ja sofort Grüppchen und ich habe in keine reingepasst. Sich in eine Gruppe zu integrieren, das hat mir gerade in diesem Alter von 19, 20 Probleme gemacht. Ich hatte also wenige Ansprechpartner und habe mich mehr oder weniger alleine durch die Ausbildung geschlagen. Das war für mich das größte Problem, aber es hat trotzdem geklappt.
Und Sie sind außer PTA auch noch Gesundheitsberaterin.
Genau. Ich habe bei uns an der Volkshochschule schon Ernährungsberatungen angeboten und bin auch Yogalehrerin, ich gebe sporttherapeutische Yogakurse. Das ist mein Steckenpferd.
Wenn man Yoga und Entspannungstechniken beherrscht, kommt einem das bei einer Reizüberflutung bestimmt auch selbst zugute, oder?
Genau, das ist das, was ich mir irgendwann als Ventil gesucht habe. Es war schwer für mich, diesen Gedankenkreiseln zu entkommen, bis ich das Yoga entdeckt habe. Es hilft mir und ich gebe das sehr gerne weiter.
Sind Ihre Kurse speziell für neurodiverse Schülerinnen und Schüler?
Nein, das nicht. Es sind in erster Linie Frauen, aber es ist alles vertreten – groß, klein, alt, jung, jeder ist dabei.
Was möchten Sie PTA mitgeben, denen ein Kollege erzählt, dass er Autist ist?
Autisten haben eine starre Denkweise. Ich habe meine Meinung, von der weiche ich nur schwer ab. Das haben natürlich auch meine Kollegen schon gemerkt. Mit viel Lamentieren kommt man da aber nicht weiter, dann schalte ich einfach ab. Und: Ich kann selbst meinen Partner manchmal nicht richtig einschätzen, die Kolleginnen einzuschätzen fällt Menschen mit Autismus also auch schwer.
Wie meint die Kollegin das jetzt? Hat sie einen Witz gemacht oder nicht? Mir sind ganz strikte Anweisungen am liebsten. Die kann ich dann genau so ausführen. Und ich bin extrem ordnungsliebend, mehr als die anderen, das ist auch manchmal ein Problem. Ich kann aber gut Fehler eingestehen, das können Menschen, die neurotypisch sind, eher weniger.
„Letztlich ist Kommunikation das einzige Mittel um gemeinsam besser interagieren zu können.“
Ich wünsche mir einfach eine offene, ehrliche und direkte Kommunikation. Emotionen einzuschätzen fällt Autisten schwer und so brauchen wir Kommunikation um Situationen, gerade schwierige, einschätzen zu können. Und für betroffene Kollegen möchte ich hinzufügen: Geht offen mit eurem Autismus um. Sprecht es aus, und helft so den Kollegen euch besser zu verstehen. Letztlich ist Kommunikation das einzige Mittel um gemeinsam besser interagieren zu können.
Und haben Sie Tipps für den Umgang mit autistischen Kunden?
Ich bin bewusst noch nicht auf viele Kunden mit Autismus getroffen. Natürlich gibt es immer mal den einen oder anderen, bei dem man es vermutet. Wenn man es genau weiß, kann man sich drauf einstellen. Aber ich denke, dass die Aufklärung über Autismus dafür noch nicht weit genug fortgeschritten ist. Es gibt ja auch so viele verschiedene Ausprägungen. Ich habe zum Beispiel das Asperger-Syndrom.
Mein Sohn ist ein Atypus, er hat einen Anteil von frühkindlichem Autismus mit einer leichten geistigen Behinderung und er hat Asperger-Anteile. Wenn ich jemandem von meinem Autismus erzähle, sagen die Leute, das merkt man gar nicht. Bei meinem Sohn merkt man es aber. Mein Autismus ist aber ja trotzdem da. Wie gehe ich also mit jemandem um? Das ist schwierig. Und eben dazu, sich in dieses große Spektrum hineinzudenken, dazu gehört noch viel Aufklärung.
Das Interview führte Gesa Van Hecke, PTA/Redaktion.