Neurodiversität
AUTISMUS, ASPERGER UND AD(H)S
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Neulich verfolgte ich eine Diskussion zum Thema „Was Hollywood an Autismus falsch versteht“. Ein Kommentar eines Betroffenen lautete ungefähr: „Das größte Vorurteil ist, dass wir alle sozial zurückgezogen leben und obendrein merkwürdig sind, dabei stellen wir sehr starke soziale Verbindungen her. Man versucht immer noch, Autismus durch die Brille einer nicht-autistischen Person zu verstehen. Das ist so, als würde man die Körpersprache einer Katze mit dem Wissen über Hunde deuten – und dann annehmen, alle Katzen sind gemein, wenn man von einer gekratzt wird, die mit dem Schwanz zuckt.“
Autistische Personen nennt man auch „neurodivers“ – im Gegensatz zu „neurotypisch“. Außer Autisten gelten auch Menschen mit Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Syndrom, kurz AD(H)S, als neurodivers. Wir werden es kaum schaffen, unsere „Brille einer neurotypischen Person“ abzulegen, aber wir können uns mit Hintergründen und Fakten ausrüsten, um Neurodiversität besser zu verstehen.
Autismus ist ein Sammelbegriff für Autismus-Spektrum-Störungen. Auf einer Skala wären sie also an verschiedenen Stellen zwischen neurotypisch und neurodivers einzuordnen. Dabei schlägt der Zeiger aber nicht nur in zwei Richtungen aus; am einen Ende neurotypisch, am anderen autistisch. Stellen Sie es sich eher wie einen Synthesizer oder ein Mischpult mit hunderten Knöpfen vor. Jeder steht für eine persönliche Eigenschaft und bei jedem Menschen ist jeder einzelne Regler unterschiedlich weit aufgedreht.
Stimmen die Einstellungen im Großen und Ganzen mit der Mehrheit der Gesellschaft überein, ist jemand neurotypisch. Eine klare Grenze, ab wann jemand als neurodivers gilt, gibt es nicht. Je nachdem, welche Regler wie weit aufgedreht sind und in welche Richtung, bereiten diese Merkmale ihren Trägern verschiedenartige Schwierigkeiten im Alltag – von charmant-ulkigen Macken bis zur Aggression, von der Höchstbegabung bis zur geistigen Behinderung.
Viele autistische Personen sprechen lieber von Neurodiversität als einer Entwicklungsstörung.
Was bedeutet Asperger?
Man unterschied früher zwischen drei Formen von Autismus: dem frühkindlichen Autismus, dem Asperger-Syndrom und atypischem Autismus. Die Symptome des frühkindlichen Autismus zeigen sich schon ab dem Säuglingsalter. Das Asperger-Syndrom wird meist erst nach dem dritten Lebensjahr festgestellt. Die Symptome sind milder, die Intelligenz ist in der Regel (über-)durchschnittlich, aber manche Betroffene sind etwas tollpatschig. „Aspies“, wie viele Betroffene sich selbst nennen, lernen oft, im Alltag selbstständig zurechtzukommen. Lernschwierigkeiten sind trotz hoher Intelligenz häufig, da es vielen Aspies schwerfällt, ihre Konzentration auf Aktivitäten zu lenken, die sie nicht selbst ausgesucht haben – wie bei AD(H)S. Menschen mit atypischem Autismus entwickeln die gleichen, aber weniger Symptome wie beim frühkindlichen Autismus und erst später. Von dieser Einteilung nimmt man zunehmend Abstand, da die Formen ineinander übergehen; die neuere Betrachtungsweise ist die des Spektrums.
Symptome
Die typischen Anzeichen von Autismus sind Schwächen bei der Sozialkompetenz, Sprach- und Kommunikationsprobleme und stereotype Verhaltensweisen. Nicht jedes der folgenden Beispiele trifft auf jeden Betroffenen zu, denken Sie an die vielen Regler des Mischpults.
Vielen Autisten fällt soziale Interaktion schwer, schon Blickkontakt kann unangenehm sein. Während neurotypische Säuglinge Blickkontakt halten und Lächeln nachahmen, weichen autistische Babys Blicken aus. Die Kinder spielen gern allein. Vielen autistischen Menschen fällt es schwer, die Gefühle anderer einzuordnen, auch ihre eigenen Gefühle können sie schlecht ausdrücken. Deshalb wirken viele Autisten abwesend oder weniger intelligent als sie es sind, insbesondere, wenn sie auch Kommunikationsschwierigkeiten haben. Auch aggressives Verhalten ist möglich. Oft sind das Abwehrmechanismen, wenn ihre Grenzen übertreten werden und sie dies nicht anders mitzuteilen vermögen.
Die Sprache kann sich unterschiedlich entwickeln: Manche Kinder sprechen gar nicht oder kommunizieren durch Laute, andere nur in Situationen, in denen sie sich sicher fühlen. Wieder andere sind überdurchschnittlich eloquent. Typisch für Autisten ist, dass sie Ironie und Sarkasmus nicht verstehen und Redewendungen wörtlich nehmen. Fragt man beispielsweise „Kannst du die Spülmaschine ausräumen?“, antwortet eine autistische Person vermutlich „Ja, kann ich“ und meint damit, sie ist körperlich fähig und hat das nötige Wissen – also ja, sie ist in der Lage die Spülmaschine auszuräumen. Die Bitte, dies auch zu tun, wurde nicht explizit formuliert und deshalb auch nicht verstanden.
Rituale sind Autisten wichtig, sie erledigen Alltägliches in der immer gleichen Abfolge. Wird diese Routine gestört, geraten sie in Stress. Viele stapeln und sortieren gerne Gegenstände. Viele tragen ein Lieblingsding bei sich.
Äußere Reize treffen auf viele Autisten quasi ungefiltert, sie nehmen alles um sich herum gleich stark wahr und können Unwichtiges nicht ausblenden – das Flackern einer Neonröhre, das Geräusch vorbeifahrender Autos, kratzige Kleider und den Geruch des Sitznachbarn in der Schule etwa. Diese Reizüberflutung macht es ihnen schwer, dem Lehrer zu folgen, kann körperlich schmerzhaft sein und zu Angstzuständen oder Zusammenbrüchen führen. Für viele Betroffene ergibt sich daraus eine starke Abneigung gegen Berührungen, bestimmte Geräusche oder Gerüche.
Viele Autisten nutzen Stimming (self-stimulating behavior), um sich bei Reizüberflutung zu beruhigen und inneren Druck abzubauen. Sie blockieren also Umweltreize, indem sie stärkere Reize selbst erzeugen. Beispielsweise schnippen sie mit den Fingern, wiederholen bestimmte Wörter, blinzeln, streicheln über einen Gegenstand, wiegen den Oberkörper oder riechen an Dingen.
Maskieren
Manche autistischen Personen können Verhaltensweisen unterdrücken oder Gesichtsausdrücke auswendig lernen. Das nennt man Maskieren. Es erleichtert den Alltag, kostet aber Kraft. Vor allem bei Autistinnen ist dies bekannt. Das könnte ein Mitgrund sein, warum die Diagnose Autismus häufiger bei männlichen Betroffenen gestellt wird.
Rainman?
Nicht jeder Autist hat eine Inselbegabung, das ist ein Klischee, aber die Hälfte der Inselbegabten ist autistisch. Inselbegabung heißt entweder, dass eine Person, die durch ihren Autismus sehr eingeschränkt ist, eine Fähigkeit hat, die man ihr nicht zugetraut hätte, oder, dass jemand ein seltenes Talent besitzt. So wie Raymond aus dem Film Rainman: Er kann seinen Alltag nicht allein bewältigen, aber rechnet blitzschnell.
Oder Temple Grandin, bei der als Kleinkind die Diagnose zunächst „Hirnschaden“ lautete, weil sie verhaltensauffällig war und nicht redete. Sie lernte das Sprechen durch intensive Förderung, später wurde klar, dass sie Autistin ist. Sie ist heute Psychologieprofessorin, Expertin für Autismus – und für Viehzucht. Denn sie kann sich in Rinder hineinversetzen, sagt, dass sie davon ausgeht, dass Kühe in Bildern denken, so wie sie selbst. Grandin entwickelte mehrere Anlagen für die Viehhaltung, die Panikhandlungen der Tiere minimierten, sodass es zu weniger Verletzungen kommt.
„Ich bemerke wunderschöne Dinge, wie den Käfer im Gras, aber nicht, dass die Wiese ein Fußballfeld ist.“ Andreas, Autist. Quelle: Verein Autismus Deutsche Schweiz
Ursachen für Autismus
Autismus könnte genetisch bedingt sein, zeigen Zwillingsstudien. Das heißt, vermutlich gibt es auslösende Mutationen. Hirnorganisch wurden bislang keine charakteristischen Veränderungen entdeckt. Es gibt Auffälligkeiten in den Arealen für Soziales und Kommunikation, auch erhöhte Serotonin- und Dopaminspiegel wurden gemessen. Allerdings ist unklar, ob das Ursache oder Folge des Autismus ist.
Ganz klar kann man jedoch sagen, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Masern-Mumps-Röteln-Impfung und Autismus gibt. Der Irrtum geht auf eine Fallbericht-Studie des britischen Arztes Andrew Wakefield zurück. Er hatte zwölf autistische Kinder mit Darmerkrankungen behandelt. Er beschrieb Darmbeschwerden als neues Symptom von Autismus und argumentierte eine Verbindung zur kürzlichen Impfung. Daraufhin sank die Impfquote in Großbritannien von 92 Prozent 1996 auf 84 Prozent 2002. Allerdings konnte Wakefield keine kausalen Zusammenhänge aufzeigen. Das Fachblatt, indem die Studie erschienen war, zog sie zurück, Co-Autoren distanzierten sich, Wakefield erhielt Berufsverbot.
Der Mythos aber hält sich. Tatsächlich beobachten viele Eltern autistischer Kinder, dass sie sich nach einer Impfung verändern, aber die klassischen Kinderimpfungen werden im gleichen Alter durchgeführt, in denen ohnehin die ersten Anzeichen von Autismus auftreten. Das suggeriert eine Kausalität, wo keine ist.
Viele seriöse Studien haben den Mythos widerlegt. Leider vermuten Impfgegner dahinter Verschwörungen. Das Paradoxe: Hinter dem Wakefield- Fall könnte wirklich eine stecken. Er hatte Geld von einer Anwaltskanzlei erhalten, die die Eltern von fünf der Kinder aus der Studie vertrat. Sie wollten den Impfstoffhersteller verklagen. Und Wakefield hielt selbst ein Patent für einen Masernimpfstoff; wäre die Kombinationsimpfung vom Markt genommen worden, hätte er profitiert.
PRAXISTIPPS
Kommt ein Autist in die Apotheke
Ein Kunde, der sich über ein Rabattvertragspräparat aufregt oder weil etwas bestellt werden muss, macht das meist nicht, um Sie zu ärgern. Vielleicht ist seine Routine durcheinandergeraten und das stellt ihn vor ein echtes Problem, das er nicht kommunizieren kann. Natürlich geben autistische Kunden sich in der Regel nicht als solche zu erkennen.
Das heißt: Am besten tritt man allen Kunden mit Verständnis entgegen. Sie als PTA sind Kommunikationsexperte; erfragen Sie, was genau dem Kunden Probleme bereitet und bieten Sie Lösungen an. Hat der Kunde Ihre Aussage „Sie können Ihr Medikament um 15 Uhr abholen“ wörtlich genommen? Machen Sie deutlich, dass Sie ab 15 Uhr meinten und die Abholung später auch noch möglich ist. Passt die Packung des Rabattvertrags-Arzneimittels nicht an den gewohnten Platz? Drucken Sie die Sonderkennziffer für pharmazeutische Bedenken auf mit der Begründung Non-Compliance.
Keine Krankheit, keine Therapie
Autismus kann und muss weder geheilt noch behandelt werden. Oft sind aber Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angst- oder Schlafstörungen therapiebedürftig. Viele Autisten sind geistig behindert, drei Viertel sind ihr Leben lang auf Hilfe angewiesen. Je nachdem, mit welchen Alltagshürden Betroffene zu kämpfen haben, sind auch unterstützende Fördermaßnahmen wie Sprachtraining oder Nachteilsausgleiche in der Schule möglich.
Verhaltenstherapien können das Sozialleben erleichtern, indem autistische Personen Selbstkontrolle, Empathie, das Verständnis von Mimik und Gestik oder kommunikative Kompetenz erlernen. Dazu gibt es spezielle Programme. Einige davon sind anerkannt. Die Applied Behaviour Analysis (ABA) oder Angewandte Verhaltensanalyse jedoch ist umstritten.
Sie trainiert Kindern sogenannte herausfordernde Verhaltensweisen ab. Dazu wird erwünschtes Verhalten wie Aufdem- Schoß-Sitzen belohnt, Schreien oder Weglaufen konsequent ignoriert. Damit basiert ABA auf klassischer Konditionierung. Sie erinnern sich an den Biologieunterricht: Das ist das mit Pawlow, den sabbernden Hunden und dem Glöckchen. Genau das kritisieren Interessenverbände; das Training sei entwürdigend. Die Methoden zur Belohnung, nämlich Kitzeln und Lob mit schriller Stimme, überfluteten die Kinder mit Reizen. Den Nutzen hätten vor allem die Eltern oder Lehrpersonen.
Allerdings: Viele Eltern bekommen keinen besseren Rat. Wenn ihr Kind Wutanfälle hat, vielleicht sich selbst oder seine Geschwister verletzt, müssen die Eltern ihr Kind dazu bringen aufzuhören. Oft denken sie, die einzige Option sei, das Kind mit Psychopharmaka (vor allem Neuroleptika) ruhigzustellen. ABA liefert dann als Alternative schnelle Erfolge. Die Auslöser und Probleme werden dabei aber nicht beseitigt, das Kind erfährt keine Ruhe oder Deeskalation, sondern verfällt in Schockstarre. So beschreibt es der Verein Selbstbestimmt Autistisch 2019 e.V.
Es ist also sinnvoll, wenn Eltern autistischer Kinder selbst Therapie in Anspruch nehmen. Sie stehen im Alltag unter einem höheren Druck als Eltern neurotypischer Kinder. Die Therapie hilft ihnen selbst und sie können lernen, leichter mit ihrem Kind zu kommunizieren – Stichwort Spülmaschine.
Diversität des Mikrobioms und Neurodiversität
Bei einem veränderten Darmmikrobiom entstehen andere Stoffwechselprodukte – auch solche, die den Hirnstoffwechsel beeinflussen. Denn Darmbakterien haben Anteil an der Regulation der Neurotransmitter Serotonin, Dopamin und Glutamat, manche Bakterien können selbst Gamma-Aminobuttersäure (GABA) bilden.
Im Stuhl von autistischen Kindern weicht die Konzentration an freien Aminosäuren und flüchtigen organischen Substanzen im Vergleich zu nicht-autistischen Kindern ab; je stärker, desto mehr Symptome zeigen die Kinder.
Das Darmmikrobiom von erwachsenen AD(H)S-Betroffenen enthält mehr Neisseriaceae, Bacterioidaceae und weniger Prevotella-Arten. Die Ursache könnte sein, dass das Immunsystem diese Stämme nicht eliminiert, weil genetisch bedingt Enzyme fehlen. Neisserien überwinden die Blut-Hirn-Schranke und stehen in direktem Zusammenhang mit Impulsivität und Konzentrationsstörungen.
Um daraus eine Therapie mit Probiotika abzuleiten, muss das Gebiet weiter erforscht werden.
Eine andere Art Neurodiversität: AD(H)S
Bei AD(H)S sind typischerweise Aufmerksamkeit und Selbstregulation schwächer, Impulsivität und Unruhe stärker ausgeprägt als bei neurotypischen Personen – denken Sie aber auch hier wieder an die vielen Regler, die bei jedem anders eingestellt sind. Man unterscheidet die Subtypen ADHS, bei dem die Hyperaktivität überwiegt, ADS mit vorwiegend Aufmerksamkeitsproblemen und einen Mischtyp. Jungen haben häufiger ADHS („Zappelphilipp“), Mädchen eher ADS („Träumeliese“).
Früher galt AD(H)S als Verhaltensstörung, heute als Entwicklungsverzögerung in dem Teil des Gehirns, der für exekutive Funktionen zuständig ist, also für die kognitive Kontrolle über Handlungen, die nicht automatisch ablaufen. Außerdem ging man früher davon aus, dass sich die Krankheit auswachse, dabei leiden über die Hälfte der Betroffenen lebenslang darunter.
Während bei Kindern Debatten geführt werden, ob Medikamente zu leichtfertig verordnet werden, sind Erwachsene unterversorgt und oft undiagnostiziert. Auch bei den Geschlechtern gibt es Unterschiede: Vier-bis fünfmal mehr Jungen erhalten die Diagnose AD(H)S. Wie beim Autismus könnte auch hier eine Rolle spielen, dass Mädchen ihre Beschwerden eher maskieren.
Hirnchemie
Im AD(H)S-Gehirn werden manche Informationen nicht weitergeleitet, weil ein Mangel der Neurotransmitter Dopamin und Noradrenalin vorliegt. Dopamin reguliert Antrieb, Motivation, Aufmerksamkeit, Aktivität und Feinmotorik. Es ruft situationsgerechte Verhaltensweisen ab und hilft dabei, das Langzeitgedächtnis zu entwickeln. Noradrenalin beeinflusst ebenfalls Motivation und Aufmerksamkeit, außerdem das Arbeitsgedächtnis, die Reizwahrnehmung, Impulssteuerung und Stimmung.
Da Östrogene indirekt die Dopaminwirkung beeinflussen, können AD(H)S-Symptome sich bei Frauen vor und während der Menstruation, in den Wechseljahren und nach einer Schwangerschaft verstärken.
Ursachen
Den größten Anteil (rund 76 %) an der Entstehung von AD(H)S haben die Gene. Es sind 560 Gene und 6 micro-RNAs bekannt, die bei Betroffenen von neurotypischen Personen abweichen, es werden aber noch viele weitere Kandidatengene vermutet. Die meisten dieser Gene codieren für Rezeptoren oder Enzyme des Neurotransmitterstoffwechsels.
Es gibt aber auch Umweltfaktoren, durch die man AD(H)S erwerben kann, insbesondere chronischer Stress in den ersten Lebensjahren, da sich dann die Stresssysteme im Gehirn ausbilden. Bei chronischem frühkindlichem Stress passen die entsprechenden Hirnstrukturen sich physiologisch an die veränderten Spiegel der Neurotransmitter an. Andere Umweltfaktoren, die zu AD(H)S führen können, sind Erkrankungen, die die dopaminergen Zellen im Gehirn schädigen, eine Enzephalitis etwa.
Typisch AD(H)S
Wie beim Autismus gibt es auch bei AD(H)S eine Reihe von typischen Symptomen, die bei jedem Betroffenen unterschiedlich ausgeprägt sind. Psychiater fragen die Anzahl dieser Symptome ab. Zusätzlich müssen diese Symptome schon seit dem Kindesalter bestehen und einen Leidensdruck verursachen. Außerdem ist eine umfassende Differenzialdiagnostik nötig, denn es gibt zahlreiche ähnliche Erkrankungen, darunter Autismus, Depressionen, bipolare oder Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Dass AD(H)S diesen Erkrankungen ähnelt, zeigt, dass sich dahinter mehr verbirgt als Zappelphilipp und Träumeliese.
Zu den typischen Symptomen zählen Unruhe und Hektik, also ständiges Herumrutschen auf dem Stuhl, Fußwippen, Nägelkauen und eine unleserliche Handschrift, aber auch häufige Verletzungen und blaue Flecken. Betroffene fühlen sich oft regelrecht getrieben. Sie haben Schwierigkeiten sich in Ruhe einer Beschäftigung zu widmen und kritzeln, stricken oder daddeln nebenbei auf dem Handy herum. Sie können sich kaum entspannen oder erholen. Gleichzeitig ist auch Antriebslosigkeit ein häufiges Symptom – wie bei einer Depression.
Betroffene sind leicht ablenkbar und unkonzentriert, andererseits fällt es ihnen schwer, ihren Fokus gezielt von einer Tätigkeit zu lösen. Typisch sind Flüchtigkeitsfehler oder, dass Aufgaben nicht bis zum Ende durchgelesen werden.
Viele Betroffene haben Probleme, ihre Umgebung ordentlich zu halten. Sie wollen beispielsweise die Wäsche in den Wäschekorb werfen, auf dem liegen aber noch die gefalteten Oberteile aus dem letzten Waschgang. Der Fokus wechselt darauf, die Oberteile wegzuräumen, im Schrank ist aber kein Platz. Also fängt man an, den Schrank aufzuräumen und findet dort ein löchriges altes Shirt, das man noch als Lappen verwenden könnte. Das nimmt man mit in die Küche, um es unter die Spüle zu den anderen Putzmitteln zu legen. Dabei stellt man fest, dass auf dem Küchentisch noch die Milchpackung vom Frühstück steht, räumt sie in den Kühlschrank, bekommt beim Anblick der anderen Lebensmittel Appetit – und fängt an zu kochen. Am Ende des Tages liegt die Schmutzwäsche noch immer auf dem Boden, die gefalteten Oberteile sind nicht im Schrank, der Schrank nur halb aufgeräumt und in der Küche stapelt sich das schmutzige Geschirr.
Personen mit AD(H)S sind oft vergesslich und verlieren Gegenstände, haben keinen Überblick über Aufgaben und Termine. Manche Betroffene überkompensieren dies, sind organisiert, penibel ordentlich und überpünktlich.
Auch Inhibitionsprobleme sind typisch, also Probleme damit, sich selbst zu bremsen. Menschen mit AD(H)S fallen beispielsweise anderen oft ins Wort oder reden wie ein Wasserfall. Auch Spontankäufe, ein hoher Alkoholkonsum, übermäßige Handynutzung und Übergewicht können Zeichen eines Inhibitionsproblems sein. Denn Betroffene neigen dazu, ihr Belohnungszentrum zu stimulieren, zum Beispiel durch zuckerund fettreiche Lebensmittel.
Auch eine Reizoffenheit, wie beim Autismus, ist typisch für AD(H)S, also dass die Betroffenen licht- und geräuschempfindlich sind oder raue Stoffe unangenehm finden. Aber auch, dass sie Hunger, Durst oder Schmerzen nur schwer ertragen können oder ihre eigenen Gefühle und die anderer unangenehm intensiv wahrnehmen wie bei einer Borderline-Störung.
Ein anderes typisches Beschwerdebild ist die emotionale Dysregulation. Das bedeutet, Betroffene sind reizbar bis zur Aggression, können mit Frustration nicht umgehen, sind impulsiv und ungeduldig. Gleichzeitig suchen sie ständig nach neuen, aufregenden Dingen und schieben Langweiliges vor sich her. Stimmungsschwankungen zwischen den Extremen sind möglich, was die Abgrenzung zur bipolaren Störung erschwert.
Einige Merkmale haben auch ihre guten Seiten, so sind hypersensible Menschen oft empathisch. Die Begeisterungsfähigkeit für Neues kann aufregend sein und sich kreativ äußern. Dass Betroffene ihren Fokus von interessanten Dingen kaum lösen können, lässt sie manchmal in den sogenannten Hyperfokus geraten, bei dem sie stundenlang konzentriert an etwas arbeiten. Und motorische Unruhe lässt sich im Leistungssport nutzen.
Neurodiversität und diverses Geschlecht
In Studien und Statistiken zu Autismus und AD(H)S arbeiten Forschende meist noch mit binären Geschlechtskategorien, also männlich und weiblich. Dabei sind neurodiverse Personen siebenmal häufiger transsexuell oder nonbinär als neurotypische Menschen.
Therapie
Leiden Betroffene jedoch unter ihren Symptomen, sind sie behandlungsbedürftig. Mit Medikamenten und Psychotherapie lässt sich AD(H)S gut in den Griff bekommen. Auch Sport hilft, vor allem beim hyperaktiven und beim Mischtyp. Nicht jede Person benötigt Medikamente. Wer sich aber in Schule oder im Job konzentrieren muss, wer durch seine Impulsivität Freunde und Familie verliert oder sich selbst gefährdet, dem werden Arzneimittel empfohlen.
Bei Kindern ist Methylphenidat Mittel der Wahl, gefolgt von Amphetaminpräparaten, dann Guanfacin, dann Atomoxetin. Erwachsenen werden bevorzugt Amphetamine verordnet, Methylphenidat nur zweitrangig, dann Atomoxetin.
Stimulanzien
Methylphenidat und Amphetamine sind Stimulanzien. Sie wirken vor allem dopaminerg, aber auch noradrenerg und bessern Hyperaktivität, Eigenaktivierung, Arbeitsgedächtnis, Aufmerksamkeit und Verhaltenskontrolle. Anders als Rauschmittel, die schnell viele Neurotransmitter ausschütten und anschließend zu Tiefs führen, gleichen AD(H)S-Therapeutika in der richtigen Dosierung nur das krankheitsbedingte Neurotransmitterdefizit aus.
Amphetamin-Präparate gab es lange nur als Rezepturen, seit 2011 ist auch ein Fertigarzneimittel mit Dexamphetamin zugelassen, seit 2013 eines mit Lisdexamphetamin für Kinder, seit 2019 auch für Erwachsene. Dexamphetamin flutet schnell an und wirkt etwa sechs Stunden lang. Lisdexamphetamin ist ein Prodrug, das nur langsam in die Wirkform übergeht und 11 bis 13 Stunden lang gleichmäßig wirkt. Methylphenidat ist sowohl retardiert als auch schnellwirksam erhältlich.
59 Prozent der Anwender sprechen auf Methylphenidat an, 69 Prozent auf Amphetamin-Präparate, 87 Prozent auf zumindest eines von beiden. Bei Amphetaminen kommt es, wenn von einem Präparat auf ein anderes umgestellt wird, zu weniger Wirkungsschwankungen als bei Methylphenidat, wo zwischen den verschiedenen Präparaten erhebliche Unterschiede bemerkbar sind.
Auch Nikotin ist ein Stimulans und verringert AD(H)S-Symptome, indem es im Belohnungszentrum Dopamin ausschüttet. Als Arzneimittel wird es aktuell aber nur zur Rauchentwöhnung eingesetzt und in Tabakwaren erhöht es den Dopaminspiegel nur kurzfristig, danach fällt dieser noch tiefer – das erhöht das Suchtpotenzial.
Nicht-Stimulanzien
Guanfacin ist seit 2016 für Kinder und Jugendliche erhältlich und wird verordnet, wenn sie auf Stimulanzien nicht ansprechen. Der selektive Adrenozeptor-Agonist ahmt Adrenalin und Noradrenalin nach, indem er die Rezeptoren aktiviert, an die die Neurotransmitter binden.
Guanfacin wirkt selektiver gegen Unaufmerksamkeits- und Organisationsprobleme, während Stimulanzien auch die Hyperaktivität und Impulsivität beeinflussen. Anders als Methylphenidat und Amphetamine unterliegt Guanfacin nicht dem Betäubungsmittelgesetz.
Atomoxetin, ebenfalls kein BtM, hemmt die Noradrenalin-Wiederaufnahme. Ähnlich wie bei Serotonin-Wiederaufnahmehemmern gegen Depressionen wurde in der mehrwöchigen Anflutungsphase eine erhöhte Suizidalität bei Kindern beobachtet. Weisen Sie die Eltern (oder je nach Alter die Jugendlichen selbst) darauf hin, damit sie Anzeichen ernstnehmen und gegebenenfalls schnell Hilfe einholen.
Für medizinisches Cannabis zeigen Studien, dass es die Leistungsfähigkeit bei AD(H)S-Patienten nur leicht erhöht, die Hyperaktivität und Impulsivität aber signifikat senkt. Bislang reichen die Daten aber nicht aus, um Cannabis in die Leitlinien aufzunehmen.
Bupropion hemmt zwar die Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme, erzielt gegen AD(H)S aber kaum Effekte. Theoretisch wäre auch eine Erhöhung des Dopaminspiegels mit Levodopa denkbar, in der Praxis bessert es AD(H)S-Symptome jedoch nicht.
Nahrungsergänzungsmittel
Oft haben AD(H)S-Betroffene einen Vitamin D-Mangel. Raten Sie Ihren Kunden, den Blutspiegel bestimmen zu lassen. Liegt ein Mangel vor, kann eine Supplementierung auch die AD(H)S- Symptomatik lindern. Ein Mangel an den Vitaminen B1, B6, B9, B12 oder Magnesium kann einige der AD(H)S-Symptome auslösen. Noch ist unklar, ob der Vitaminmangel Mitursache für die Entwicklungsstörung ist oder ob die krankheitstypische Fehlernährung hinter dem Mangel steckt. Vitamin C ist an der Noradrenalinsynthese beteiligt. Zink senkt die Aktivität des Dopamintransporters und erhöht so die Dopaminkonzentration. Studien zeigen auch, dass die Gabe von Omega-3-Fettsäuren die Symptomatik bessern kann.
Durch die neurotypische Brille:
Bücher, Filme und Serien über autistische Personen
+ Du gehst nicht allein (Fernsehfilm über Temple Grandin)
+ Das Rosie-Projekt (Buchreihe)
+ Rain Man (Spielfilm)
+ Snow Cake (Spielfilm)
+ The Good Doctor (Serie)
+ Atypical (Serie)
Die neurotypische Brille absetzen
Verwunderlich wäre es nicht, könnten Sie sich mit einigen der genannten Symptome identifizieren. Für die vielen Regler am Mischpult existieren keine Standardeinstellungen. Menschen, die ähnlich eingepegelt sind wie die anderen, kommen in der Gesellschaft meist gut zurecht. Und denjenigen, bei denen das nicht so ist, kann man mit Therapien, gegebenenfalls Arzneimitteln und vor allem Verständnis helfen.
Gesa Van Hecke, Redakteurin