Materialentwicklung
SCHNECKENSCHLEIM ALS GRUNDLAGE FÜR CHIRURGISCHEN SPEZIALKLEBER
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Sie futtern schon mal innerhalb einer Nacht ein ganzes Beet leer. Falls jemand auf die Idee kommen sollte, sie daran zu hindern, wissen sie sich zu wehren. Denn Arion subfuscus, die Hellbraune Wegschnecke, produziert einen Spezialkleber, wenn sie sich fürchtet, vor Fressfeinden zum Beispiel. Oder sie klebt sich selbst kurzerhand am Boden fest, dann kann sie auch niemand wegtragen.
Das brachte Forschende aus den USA auf eine Idee: Da Schneckenschleim extra klebrig und dehnbar ist, macht es ihn für Bioingenieure interessant.
Kleber mit Geschichte
Bereits 2017 hatte man daraus ein Material entwickelt, das selbst am schlagenden Herzen hielt. Es besteht aus einem Mix aus Proteinen, Kohlehydraten und Wasser, nennt sich „Tough Gel Adhesives“ (TGA) und ist deutlich klebriger, dehnbarer und ungiftiger als gängige chirurgische Kleber wie Cyanacrylat.
Das liegt übrigens an der zweischichtigen Struktur des Biomaterials: Die klebrige Schicht ist mit positiven Ionen geladen und geht somit starke chemische Verbindungen mit den Gewebeoberflächen ein, die von Natur aus negativ geladen sind. Die zweite Schicht ist ein Hydrogel, wie es etwa auch in Kontaktlinsen steckt.
Schnecken und Pharmazie
Kleben statt nähen
„Das Hydrogel absorbiert die Energie, die den Klebstoff sonst ablösen oder brechen könnte“, erklärt Studienleiter Jianyu Li im Magazin Science News, „und wirkt so wie ein Stoßdämpfer am Auto“. Künftig könnten Chirurg*innen damit Wunden an Organen und Gefäßen zukleben, statt sie zu nähen, Herzschrittmacher direkt am Herzen fixieren und den Stoff sogar spritzen, um tiefe Wunden ohne invasive Operationen zu heilen.
Was ist seit der fünf Jahre alten Studie passiert? Zugelassen ist der Kleber noch nicht. Um an Menschen getestet zu werden, muss der Stoff zunächst als körperverträglich und biokompatibel von der Food and Drug Administration (FDA) anerkannt sein. Einen wichtigen Schritt in diese Richtung machten die Forschenden, indem sie entwicklungstechnisch auf das TGA draufsattelten: mit der neuen Materialfamilie „Janus Tough Adhesives“ (JTA) sollen sich Sehnenverletzungen besser behandeln lassen. Sehnen verbinden Muskeln und Knochen und sind aus sehr starkem Material. Zerren wir sie uns oder reißen sie gar, muss oft operiert werden. Der Heilungsprozess dauert lange und ist schmerzhaft.
Chitosan vs. Hydrogel
JTA hat, wie der Name schon andeutet, zwei Seiten. Die klebrige Seite wird nicht synthetisch hergestellt, sondern ist mit Chitosan beschichtet – einem Zucker aus den Schalen von Garnelen. Mit dieser Seite haften JTA an der gerissenen Stelle einer Sehne und halten diese ohne Nähte zusammen. Die andere Seite ist wieder ein Hydrogel und bewirkt das Gegenteil: Bei Bewegung gleitet die Sehne ganz normal über das umliegende Gewebe. Gleichzeitig ist das Polymer ein Arznei-Depot; es enthält entzündungshemmende Medikamente und gibt diese langsam ab.
Erfolgreich getestet wurde dieser neue Super-Kleber allerdings bisher nur an lebenden Ratten und den Handgelenken menschlicher Leichen. Wann klinische Untersuchungen an lebenden Menschen erfolgen, ist noch unklar. Doch Benjamin Freedman, Leiter der aktuellen Studie, gibt sich zuversichtlich: „Alle Bestandteile der JTA sind als biokompatibel anerkannt und kommen bereits in Medizinprodukten zum Einsatz, die von der FDA zugelassen sind. Sehr gute Aussichten also, um in die klinische Praxis zu gelangen.“ Freedmans Team hat übrigens auch eine Version entwickelt, die im Körper verbleiben kann und sich biologisch abbaut. Wir sind gespannt und die Nacktschnecken mit uns.
Quelle: enorm