Gendermedizin
MANGELNDE DATEN FÜR FRAUEN- EINE UNTERSCHÄTZTE GEFAHR
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Manche Arzneistoffe wirken bei Frauen ganz anders als bei Männern, manche Erkrankungen äußern sich vollkommen unterschiedlich. In beiden Fällen kann Unwissenheit sogar gefährlich werden.
Nicht nur auf der pharmazeutischen Messe expopharm, die im September in Düsseldorf stattfand, kam das Thema zur Sprache. In Berlin befasst sich das Institut für Geschlechterforschung schon länger mit der Problematik. Hier fordert man Frauen auf, bei der Behandlung genau nachzufragen.
Unbefriedigende Situation
Professor Theo Dingermann von der Universität Frankfurt am Main schätzt in seinem Vortrag auf der expopharm, dass Frauen etwa doppelt so oft Arzneimittelnebenwirkungen erleiden wie Männer. Trotz geschlechterspezifischer Unterschiede würde mit gleichen Dosen therapiert. Das sei eine „unbefriedigende Situation“.
Beispiele gibt es viele. So verursachen ACE-Hemmer bei Frauen öfter Reizhusten, Sertralin wirkt bei Frauen stärker und unter Clopidogrel haben Frauen ein höheres Blutungsrisiko. Ciprofloxacin, Citalopram und Haloperidol führen bei Frauen öfter zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen als bei Männern.
Die Gründe dafür, warum manche Arzneistoffe anders wirken, sind vielfältig. Unterschiedliche Organgrößen und Enzymausstattungen spielen eine Rolle, Männer haben meist auch einen höheren Wasser-, Frauen einen höheren Fettanteil. Arzneistoffe verteilen sich also anders im Körper. Außerdem besitzen Frauen durch ihr zweites X-Chromosom Gene, die Männern fehlen. Man vermutet auch, dass das Gehirn von Frauen Schmerzen anders verarbeitet als das von Männern. Frauen kommen mit weniger Nierenkörperchen auf die Welt und sind so vor allem im Alter bei der Ausscheidung von Arzneistoffen im Nachteil. Die Sexualhormone tun ihr Übriges, um die Wirkung, die Verteilung und den Abbau von Arzneistoffen im Körper zu beeinflussen.
So weiß man, dass Montelukast, ein Leukotrien-Antagonist, der bei Asthma eingesetzt wird, bei Jungen ab Beginn der Testosteronproduktion kaum noch eine Wirkung zeigt. Der Grund: Die Leukozyten von Frauen schütten mehr Leukotriene aus, die als Entzündungsbotenstoffe die Erkrankung fördern. Testosteron lässt die Leukotrienproduktion stark abfallen. Ab dem neunten Lebensjahr verliert Montelukast daher oft seine Wirkung- allerdings nicht bei Mädchen.
Für das Schlafmittel Zolpidem hat die bei Frauen verlängerte Wirkung zumindest in den USA Folgen: Die zuständige Arzneimittelbehörde FDA empfiehlt für Frauen die Hälfte der Dosis, die für Männer eingesetzt wird. Hierzulande, so Professor Dingermann, ist es schwierig, die Leitlinien zu ändern. Denn hier hinein „kommt nur das, was durch randomisiert kontrollierte Studien belegt ist“.
Studien: Männer bevorzugt
Beim Thema Studien ist die Datenlage (leider) sehr eindeutig. Erst seit 2004 müssen in der EU laut Arzneimittelgesetz bei klinischen Studien Frauen eingeschlossen werden. Das Problem: Häufig erfolgt die Auswertung der Ergebnisse nicht geschlechtsspezifisch. Der Hintergrund, warum Frauen früher gar nicht berücksichtigt wurden und heute noch so unterrepräsentiert sind: die (mittlerweile widerlegte) Annahme, dass der weibliche Zyklus ein Störfaktor sein könnte.
Diese Sichtweise führt teils zu großen Problemen. Eine Studie zur Therapie von Herzinfarkt schließt nur 20 Prozent Frauen ein. Für diese zeigte sich kein messbarer Effekt. Doch in den Ergebnissen fand diese Tatsache keine Berücksichtigung. Würde das untersuchte Arzneimittel tatsächlich zugelassen, hätte es für Frauen keine nennenswerte Wirkung, würde ihnen aber verordnet. Die behandelnden Ärzte würden die Dosen erhöhen, was zu Nebenwirkungen führt. Andersherum geht es aber auch: So wurde in einer Zulassungsstudie für eine Kombination aus Valsartan und Sacubitril bei Herzinsuffizienz nur für Frauen eine Wirkung belegt.
Eine gute Nachricht: Seit Januar 2022 gilt eine neue EU-Verordnung, die die repräsentative Verteilung von Geschlechtern und Altersklassen für klinische Studien festlegt. Abweichungen müssen in Zukunft spezifisch begründet werden.
Lebensgefahr für Frauen
Auch die Symptomatik mancher Erkrankungen variiert mitunter. Die Gründungsdirektorin des Berliner Instituts für Geschlechterforschung an der Charité, Professor Dr. Vera Regitz-Zagrosek, warnt: Frauen kämen bei der Therapie schwerer Erkrankungen oft zu kurz. Ein Herzinfarkt äußert sich beispielsweise bei Männern oft klassisch mit Druck und Schmerzen im Brustraum, vor allem auf der linken Seite. Frauen beschreiben dagegen oft unspezifische Symptome wie Übelkeit und Erbrechen sowie Schmerzen in Nacken, Schulter oder Oberbauch. Die Unterschiede können dazu führen, dass Frauen anders behandelt werden als Männer, und das ist in diesem Fall möglicherweise lebensgefährlich. Regitz-Zagrosek fordert Frauen auf, hier gezielt und mutig nachzufragen. Das könnte das eigene Leben retten.
Quellen:
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/diese-arzneistoffe-wirken-bei-frauen-anders-142619/
https://www.ptaheute.de/aktuelles/2022/03/08/geschlechterunterschiede-wirken-medikamente-bei-frau-und-mann-unterschiedlich
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/eu-fuehrt-repraesentative-geschlechterverteilung-ein-127589/
https://www.bundesaerztekammer.de/presse/aktuelles/detail/gehle-gendermedizin-ist-der-einstieg-in-eine-individualisierte-oder-personalisierte-medizin
https://www.akdae.de/fileadmin/user_upload/akdae/Fortbildung/Vortraege/TS/2023/Geschlechtsspezifische-Unterschiede-Pharmakotherapie-2023.pdf
https://ptaforum.pharmazeutische-zeitung.de/gendermedizin-der-grosse-unterschied-116350/
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/warum-sie-bei-frauen-anders-wirken-123806/