Arzneimitteltherapiesicherheit
DIE PASSENDE PILLE FÜR SENIOREN
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Es gibt nicht ohne Grund eine gesonderte Fachrichtung für die Therapie älterer Menschen, auch wenn sie noch nicht deutschlandweit als Schwerpunkt der Inneren Medizin anerkannt ist. In der Geriatrie beschäftigt man sich dabei nicht nur mit einer Krankheit, sondern verfolgt den Anspruch, den Patient*innen ganzheitlich zu helfen, denn je nach Symptom oder Beschwerden müssen verschiedene Bereiche gleichzeitig, das heißt interdisziplinär, behandelt werden.
Auch eine pharmazeutische Weiterbildung kann mittlerweile im Bereich der Versorgung geriatrischer Patient*innen absolviert werden. Und das nicht ohne Grund, denn die Altersgruppe der Senioren stellt nicht nur den größten Kundenanteil in der Offizin dar, sie benötigt auch die meiste Beratung.
Der Körper verändert sich im Alter
Ein 90-jähriger Organismus funktioniert eben nicht mehr wie ein 30-jähriger: Pharmakokinetik und -dynamik verändern sich, so ist beispielsweise die Ausscheidung über die Niere verzögert. Auch reagiert der Körper insgesamt sensibler auf anticholinerge oder sedierende Effekte. Hinzu kommen verschiedene Vor- oder Grunderkrankungen sowie deren jeweilige Pharmakotherapie – beides muss in gleichem Maße bei der Behandlung berücksichtigt werden. Zwar treten Beschwerden des Herz-Kreislauf-Systems, der Verdauungsorgane oder des zentralen Nervensystems auch in jüngeren Jahren auf. Aber eben nicht so häufig und nicht so geballt. Die Multimorbidität steigt nach dem 65. Lebensjahr merklich an, vor allem im Bereich der betagten und hochbetagten Menschen.
Problematische Wirkstoffe und Polypharmazie
Laut Arzneimittelverordnungsreport 2021 erhielten Männer im Alter ab 60 Jahren anteilig die meisten Medikamente, 777 definierte Tagesdosen (DDD) pro Jahr. Zum Vergleich: Im Alterssegment der Männer von 20 bis 24 sind es 58 DDD. Dabei erhält ein Mann zwischen 60 und 64 Jahren laut des Berichts durchschnittlich 9,7 Präparate.
Definierte Tagesdosis
Die definierte Tagesdosis (defined daily dose, DDD) ist ein Maß für die verordnete Arzneimittelmenge. Sie gibt nicht die empfohlene oder tatsächlich verordnete Tagesdosis an, sondern dient als rechnerische Maß- und Vergleichseinheit zur Arzneimittelverbrauchsforschung, so wie beispielsweise auch die Anzahl der abgegebenen Packungen oder der mit Arzneimitteln erzielte Umsatz. Im Gegensatz zu diesen beiden Kennzahlen hat die DDD den Vorteil, dass durch die festgelegte Wirkstoffmenge der direkte Verbrauch eines Arzneimittels gemessen wird und dass Änderungen bei den Packungsgrößen oder angebotenen Dosisstärken den gemessenen Verbrauch nicht verfälschen.
Bedingt durch diese Vielzahl an Medikamenten kommt es viel häufiger zu unerwünschten Arzneimittelereignissen, also beispielsweise durch Interaktionen ausgelöste unerwünschte Wirkungen. Sie fallen häufig nicht direkt auf, denn durch bestehende Grunderkrankungen werden die Symptome verschleiert und so schnell der jeweiligen Krankheit zugeschrieben – oder einer neuen Krankheit.
Doch nicht nur die Polymedikation, auch die Arzneistoffe an sich können ungeeignet sein. So können zahlreiche Wirkstoffe das Risiko für altersbedingte Komplikationen, wie etwa Stürze, erhöhen. Anticholinerge oder zentral dämpfende Arzneimittel können sowohl durch ihre Wirkung als auch ihr Nebenwirkungsprofil problematisch sein. Sie werden daher als potenziell inadäquate Medikamente (PIM) bezeichnet.
In einigen Fällen kommen sie in der Praxis trotzdem zum Einsatz. Betroffene werden dann entweder engmaschiger beobachtet oder befinden sich bereits in der stationären Aufnahme. Doch wenn das Risiko eines unerwünschten Arzneimittelereignisses größer ist als der klinische Nutzen, sollte die Anwendung überdacht werden. Vor allem, wenn geeignetere Alternativen vorhanden sind.
Überblick PRISCUS-Liste
Trotz ihres Namens – priscus bedeutet übersetzt aus dem Lateinischen altehrwürdig – zählt die PRISCUS-Liste noch nicht viele Veröffentlichungsjahre. Als Bestandteil des Aktionsplans Arzneimitteltherapiesicherheit 2008/2009 des Bundesministeriums für Gesundheit ging sie 2010 als finale deutsche PIM-Liste an den Start. Mit aktuellem Stand umfasst sie 83 Arzneistoffe aus 18 Arzneistoffklassen, die eine Expertenrunde als ungeeignet für die Anwendung bei älteren Menschen bewertete.
Die Daten setzen sich zusammen aus selektiver Literaturrecherche und der Analyse internationaler PIM-Listen. Die daraus resultierende, vorläufige Auflistung wurde in zwei Runden durch eine Expertenbefragung geprüft und validiert. Diese sogenannte Delphi-Methode ist auch Basis kommender Aktualisierungen.
Beers-Liste
Die 1991 veröffentlichte US-amerikanische Beers-Liste gilt als Vorbild der in Deutschland angewandten PRISCUS-Liste. Inzwischen wurde sie zweimal aktualisiert und führt dabei die Wirkstoffe auf, deren Anwendung für ältere Menschen als riskant gilt. Wobei in einem ersten Teil all diejenigen aufgeführt sind, die generell vermieden werden sollten. Im zweiten Teil folgen die Wirkstoffe, die bei Patient*innen mit bestimmten Vorerkrankungen nicht verwendet werden sollten.
Da in den USA teilweise andere Arzneimittel zugelassen sind und sich die Verschreibungspraxis stark unterscheidet, förderte das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Erarbeitung der PRISCUS-Liste. Bis zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung galt die Beers-Liste, übersetzt und adaptiert an den deutschen Markt, als wichtigstes Werkzeug in der Arzneimitteltherapiesicherheit von Menschen über 65 Jahren. Sie wird auch heute noch (in Kombination mit der PRISCUS- und/oder FORTA-Liste) angewendet.
Die frei zugängliche Liste führt in tabellarischer Form alle ungeeigneten Wirkstoffe auf, nach Arzneistoffklassen sortiert, und gibt Handlungsempfehlungen, falls eine Therapie unumgänglich ist. So finden sich für jeden Arzneistoff neben der Begründung für dessen Aufnahme in die Liste auch mögliche Therapie-Alternativen sowie Maßnahmen, falls das Arzneimittel trotzdem verwendet wird, und Bedingungen, bei welchen Komorbiditäten es nach Möglichkeit nicht angewendet werden soll. Zu den Empfehlungen zählen unter anderem Dosis-Anpassungen, Co-Medikationen oder auch Monitoring-Parameter, die regelmäßig kontrolliert werden sollten, zum Beispiel Serum-Kreatinin oder Elektrolytwerte.
Als Hilfestellung für Ärzt*innen und das Apothekenpersonal finden sich Informationen zur individuellen Nutzen-Risiko-Bewertung für folgende Arzneistoffklassen:
- Nicht-steroidale Antirheumatika und Antiphlogistika (u.a. Indometacin, Piroxicam)
- Opioidanalgetika (Pethidin)
- Antiarrhythmika (u.a. Chinidin, Digoxin)
- Antibiotika (Nitrofurantoin)
- Anticholinergika (u.a. bestimmte Antihistaminika und Spasmolytika)
- Antikoagulantien (u.a. Prasugrel)
- Antidepressiva (wie Trizyklika, SSRI oder MAO-Hemmer)
- Antiemetika (Dimenhydrinat)
- Antihypertensiva (wie Alphablocker, Calciumkanalblocker oder Clonidin)
- Neuroleptika (wie Clozapin oder Haloperidol und Ergotamine)
- Laxanzien (Paraffin)
- Muskelrelaxanzien (Baclofen)
- Sedativa (wie Benzodiazepine, Z-Substanzen oder Doxylamin)
- Antidementiva, Vasodilatatoren, durchblutungsfördernde Mittel
- Antiepileptika (Phenobarbital)
In der Tabelle findet sich auch der Mittelwert der Experteneinstufung, um die Anwendung in der Praxis ein Stück weit für den Anwender abzusichern. In der Befragung nutzten die Experten die sogenannte Likert-Skala mit einem Fünfpunktesystem, wodurch die Arzneistoffe abgestuft von „1“, ein Arzneimittel, das sicher potenziell inadäquat für ältere Patienten ist, bis hin zu „5“, ein Arzneimittel, das ein vergleichbares Risiko in der Anwendung bei Jung und Alt trägt, bewertet werden konnte. Die Zahl „3“ gibt eine unentschiedene Bewertung wieder.
Hier erfahren Sie mehr zum Thema:
FORTA-Liste
Ein weiteres Klassifizierungsmodell, das im klinischen Alltag bei der Beurteilung der Medikation für ältere Menschen unterstützen soll, ist die FORTA-Liste. Bei Fit fOR The Aged – übersetzt Fit für ältere Menschen – handelt es sich um ein Projekt innerhalb der klinischen Pharmakologie, es wird fortlaufend an der Universität Heidelberg weiterentwickelt.
Seit 2018 dient die Liste der Überwachung und Optimierung der medikamentösen Therapie und umfasst 296 Substanzen beziehungsweise Substanzklassen für 30 Indikationsbereiche, die älteren Patient*innen besonders häufig verordnet werden. Im Gegensatz zur PRISCUS-Liste werden diese direkt in vier Kategorien A bis D eingeteilt:
- A: Unverzichtbar
Der Nutzen ist bei bestehender Indikation gut belegt. - B: Vorteilhaft
Zwar ist die Wirksamkeit bei älteren Patient*innen nachgewiesen, aber es bestehen Einschränkungen bezüglich Sicherheit und Wirksamkeit. - C: Fragwürdig
Wegen ihres ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnisses sollte der Einsatz dieser Substanzen überdacht und Alternativen erwogen werden. Kommen sie dennoch zum Einsatz, gilt es, Betroffene gut zu beobachten und im Vorfeld aufzuklären. - D: Vermeiden
Es sollten immer Alternativpräparate zum Einsatz kommen.
Mittlerweile steht die dritte Version online und ist mit dem Veröffentlichungsdatum 2020 deutlich aktueller als die PRISCUS-Liste. In der praktischen Anwendung biete sich der Vorteil, dass nicht nur kritische Arzneistoffe aufgelistet werden, sondern auch empfehlenswerte mit guter Studienlage (Positivempfehlung). Daher ergänzen sich FORTA- und PRISCUS-Liste bei der Medikationsanalyse älterer Menschen.
Update: PRISCUS 2.0
Seit 2010 hat sich viel auf dem deutschen Arzneimittelmarkt geändert – diese Änderungen sollen sich bald auch in der PRISCUS-Liste widerspiegeln. Zurzeit befindet sie sich, erneut auf Basis des Delphi-Verfahrens, in der Überarbeitung. Die daraus resultierenden Publikationen sind bereits zugänglich, die aktuelle Version der Liste – PRISCUS 2.0 – wird dieses Jahr erwartet. Professor Dr. Petra Thürmann, federführende Autorin der Liste, gab bei der Fortbildungsveranstaltung der Apothekerkammer Nordrhein einen Ausblick über die kommenden Neuerungen: „In PRISCUS 2.0 haben 158 plus 29 potenziell inadäquate Medikamente Eingang gefunden“.
Neu ist zum Beispiel die zeitliche Begrenzung einer Protonenpumpenhemmer-Therapie auf acht Wochen – längere Anwendungen werden bereits in der europäischen und amerikanischen Leitlinie als potenziell inadäquat eingestuft. Ähnliches gilt für den Einsatz des Neuroleptikums Risperidon länger als sechs Wochen. Doch nicht nur die Dauer, auch die Dosis mancher Arzneistoffe sollte kritisch betrachtet werden, beispielsweise Spironolacton mit mehr als 25 Milligramm pro Tag. In die Liste neuer PIMs reihen sich nun auch alle Sulfonylharnstoffe, Glinide, Fluorchinolone und Coxibe – generell und ohne Einschränkungen in Therapiedauer oder Dosis.
Auf der Veranstaltung betonte Thürmann: „Die direkten Antikoagulanzien werden keine PIMs sein“, denn sie seien sicherer als Vitamin-K-Antagonisten – bei sachgerechter Anwendung. Zukünftig wäre eine regelmäßige Aktualisierung, alle zwei Jahre, wünschenswert, schloss die Referentin.
Quellen:
https://www.priscus2-0.de/priscus-1.html
https://www.tk.de/resource/blob/2107928/b970a8db3e2d0d56f9ca30075f2ef7f1/gesundheitsreport-arzneimittelverordnungen-2021-data.pdf
https://www.destatis.de/DE/Themen/Querschnitt/Demografischer-Wandel/Aeltere-Menschen/bevoelkerung-ab-65-j.html
https://www.dggeriatrie.de/ueber-uns/was-ist-geriatrie
https://www.bcp.fu-berlin.de/pharmazie/faecher/klinische_pharmazie/arbeitsgruppe_kloft/materialien/Beers-Liste.pdf
https://geriatricscareonline.org/
https://www.umm.uni-heidelberg.de/klinische-pharmakologie/forschung/forta-projekt/
https://www.medikamente-im-alter.de/medikamente-im-alter/priscus-liste
https://www.gelbe-liste.de/arzneimitteltherapiesicherheit/priscus-liste
https://media.gelbe-liste.de/documents/priscus-liste.pdf
https://www.deutschesgesundheitsportal.de/2019/02/20/aktuelle-version-der-forta-liste-online/
https://www.gbe-bund.de/glossar/DDD_Tagesdosen.html