Krankheiten im Kindesalter
SCHREIBABYS
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Die wahrscheinlich bekannteste Ausprägung einer Regulationsstörung ist das exzessive Schreien. Nicht selten sind aber auch weitere Bereiche betroffen: Die Kinder können außerdem Probleme bei der Selbstberuhigung, beim Schlafen oder beim Essen haben, mitunter klammern oder trotzen sie exzessiv. All dies bringt die Eltern an ihre Belastungsgrenzen und darüber hinaus, was sich wiederum negativ auf die Interaktion und Kommunikation mit dem Kind auswirkt – und die Schwierigkeiten weiter verstärkt.
Entwicklungsaufgaben Abhängig vom Alter durchlaufen Säuglinge zahlreiche Entwicklungsschritte, in denen es jeweils etwas Neues zu lernen und zu bewältigen gilt: So stehen in den ersten drei Lebensmonaten vor allem die Aufnahme von Nahrung und ihre Verdauung sowie die Organisation von Schlaf- und Wachzuständen im Fokus. Dementsprechend können in dieser Phase als Regulationsstörungen vor allem exzessives Schreien und Probleme mit der Schlaf-Wach-Organisation auftreten.
In den folgenden Monaten geht es dann durch das Zufüttern vermehrt um Anpassungen an eine neue Art der Nahrungsaufnahme und neuen Geschmack sowie in der Interaktion mit den Eltern um die Regulation von Aufmerksamkeit und Affekt. Treten hier Probleme auf, kann sich dies beispielsweise in fehlendem Interesse am Spiel oder bedrückter, unzufriedener Stimmung äußern. Wenn das Kind noch älter wird, beginnt es sich eigenständig fortzubewegen und die Umgebung zu erkunden, während gleichzeitig auch die Bindung zu den Eltern wichtiger wird. Dass Kinder in dieser Phase mehr oder weniger fremdeln ist völlig normal – exzessives Klammern wird jedoch als Regulationsstörung interpretiert.
Im Alter von etwa 1,5 Jahren schließlich werden Kinder immer selbstständiger, erkennen sich im Spiegel, der Wortschatz und damit die Fähigkeit, sich auch verbal auszudrücken, nehmen enorm zu – generell wollen sie alles selber machen. Damit einher geht bei jedem Kind die Trotzphase, in der es versucht, seinen Willen gegenüber den Erwachsenen durchzusetzen – auch das völlig normal. Exzessives Trotzen und aggressiv-oppositionelles Verhalten dagegen sind wiederum als Regulationsstörung zu verstehen, bei der es das Kind nicht schafft, sein Verhalten angemessen zu regulieren.
Engelskreis und Teufelskreis Natürlich wird kein Kind alle genannten Entwicklungsschritte ohne ein einziges Problem meistern und sich immer sofort angemessen selbst regulieren können. Im Gegenteil: Regulationsstörungen sind häufig und betreffen jedes fünfte körperlich gesunde Kind. Mitentscheidend für den Erfolg ist die Unterstützung durch die Eltern, wenn neue Entwicklungsschritte anstehen. Von einem Engelskreis spricht man, wenn sich beispielsweise ein schreiendes Baby durch die Eltern beruhigen lässt – dann können beide entspannen und eine positive Erfahrung verbuchen.
Damit steigen die Chancen, dass es dem Kind auch beim nächsten Mal wieder gelingt, sein Verhalten zu regulieren und sich zu beruhigen. Ein Teufelskreis kann dagegen dann in Gang kommen, wenn sich das Baby nicht beruhigen lässt. Die Eltern fühlen sich abgelehnt und ihr Vertrauen in ihre eigentlich intuitiv vorhandenen Kompetenzen im Umgang mit dem Kind wird geschwächt. Sie sind verunsichert, reagieren zunehmend weniger angemessen, wodurch sich das Baby erst recht nicht beruhigen kann.
Eingedampft
Eine frühkindliche Regulationsstörung liegt dann vor, wenn
+ Probleme bei der Verhaltensregulation auftreten, die die Eltern massiv belasten und
+ dadurch die Interaktion und Kommunikation zwischen Eltern und Kind leidet.
Die häufigsten Regulationsstörungen sind exzessives Schreien, Schlafstörungen, Trotzen und Fütterungsstörungen. Indem die Eltern mithilfe von Experten ein Verständnis für die Ursachen und Zusammenhänge entwickeln, können sie aus dem Teufelskreis ausbrechen und lernen, ihr Kind bei der Selbstregulation zu unterstützen.
Das erste Bad Wissenschaftlich werden diesen Prozessen der Selbstregulation die „vier As“ zugrunde gelegt, nämlich Arousal (Erregung), motorische Aktivität, Affekt und Aufmerksamkeit. In einer neuen Situation werden sie einerseits aktiviert und andererseits gehemmt, wobei im Idealfall die richtige Balance entsteht. Zum Beispiel beim ersten Bad: Die Erregung des Säuglings zeigt sich in den weit geöffneten Augen und der beschleunigten Atmung; das Baby ist motorisch angespannt und ballt seine Händchen zu Fäustchen. Der Affekt ist ängstlich und es richtet seine Aufmerksamkeit auf die Bezugsperson. Die Mutter oder der Vater wird nun dem Kind mit Mimik und Stimme versichern, das alles in Ordnung ist. Der Aktivierung der vier Komponenten wird so eine Hemmung entgegengesetzt. So helfen die Eltern dem Kind zu lernen, sich selbst zu regulieren.
Risikofaktoren Nicht immer ist ersichtlich, warum manche Kinder Regulationsstörungen entwickeln und andere nicht. Sicherlich hat dies auch mit dem Temperament des Kindes zu tun, möglicherweise sind Kinder mit Regulationsstörungen auch sensibler für Reize und haben es deshalb schwerer, sich zu beruhigen. Darüber hinaus ist eine Reihe von Risikofaktoren bekannt. Sie können die Eltern sowie das Kind betreffen und vor, während oder nach der Geburt auftreten.
Dazu gehören auf Seiten der Mutter etwa Stress und Ängste, Schwangerschaftsdepressionen, psychische Erkrankungen, Konflikte in der Partnerschaft, eine unerwünschte Schwangerschaft, soziale Isolation, fehlende Unterstützung durch die Familie und Geldsorgen. Zudem steigt das Risiko für Regulationsstörungen mit dem Alter der Mutter bei der Geburt und bei Missbrauch von Drogen, Alkohol oder Nikotin während der Schwangerschaft. Traumatische Erlebnisse bei der Geburt, Geburtskomplikationen und auch längere Krankenhausaufenthalte nach der Geburt können ebenfalls zu einem erhöhten Risiko beitragen.
Hilfe suchen Eltern, die im Umgang mit ihrem Kind aufgrund von Regulationsstörungen an ihre Grenze kommen, sollten sich unbedingt Hilfe suchen. Erster Ansprechpartner ist die Kinderärztin oder der Kinderarzt, bei Bedarf kann eine Überweisung an eine spezialisierte Institution sinnvoll sein. Dort erhalten sie zunächst Informationen über die hier dargestellten Zusammenhänge (die den wenigsten Eltern bewusst sind), wobei der Therapeut auf die individuelle Situation der Familie eingehen wird.
In psychotherapeutischen Gesprächen können die Eltern eigene Probleme zur Sprache bringen und an Lösungen arbeiten. Zentrales Anliegen ist schließlich, die Kommunikation zwischen Eltern und Kind zu verbessern, sodass die Eltern wieder lernen, die Signale ihres Kindes zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Dafür können auch Videoaufzeichnungen genutzt werden, die gemeinsam besprochen und analysiert werden.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 09/2021 ab Seite 100.
Dr. rer. nat. Anne Benckendorff, Medizinjournalistin