verschiedene Buchstaben liegen auf einer weißen Fläche und ein Buntstift, der verknotet ist.© udra / iStock / Getty Images Plus
Rund zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung sind wissenschaftlichen Hochrechnungen zufolge von einer Lese-Rechtschreibstörung betroffen.

Lese-Rechtschreibstörung

URSACHEN EINER LEGASTHENIE

Menschen, die unter einer Legasthenie leiden, haben in der Regel erhebliche Probleme beim Lesen und Schreiben. Die Konsequenz sind oft schulische und emotionale Probleme. Ein Betroffener schildert seine Erfahrungen.

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"Ich wusste nicht, ob ich einfach dumm bin", erinnert sich Sebastian. Der 27-Jährige aus Hessen, der seinen vollen Namen nicht in den Medien lesen möchte, ist Legastheniker. "Ich brauche viel Konzentration beim Lesen. Ansonsten verschwimmen die Buchstaben", schildert er. Das habe sich bei ihm schon in der Grundschule gezeigt. "Bei Diktaten habe ich immer grottenschlecht abgeschnitten, obwohl ich viel gelernt habe." Dann habe es von den Lehrern oft geheißen: "Streng dich doch mal an."

"Das war deprimierend", sagt Sebastian. "Das hat mir die Freude und Motivation genommen." Nach und nach habe sich das auch auf seine Leistungen in anderen Fächern ausgewirkt, da überall - schnell - gelesen werden müsse und irgendwann die Rechtschreibung in allen Fächern in die Noten einfließe. Er habe sich ohnmächtig gefühlt.

"Egal, wie sehr ich mich angestrengt habe, ich hatte keinen Einfluss darauf, wie meine Noten ausfallen." Das habe an seinem Selbstwertgefühl genagt.

Betroffene leiden an Ängsten

Zehn bis zwölf Prozent der Bevölkerung seien wissenschaftlichen Hochrechnungen zufolge von einer Lese-Rechtschreibstörung betroffen, sagt Sabine Behrent vom Landesverband Legasthenie und Dyskalkulie Hessen. Viele von ihnen litten an Ängsten, Angststörungen, Depressionen bis hin zu Suizidgedanken. "Legasthenie geht oft einher mit einem verminderten Selbstwertgefühl", erläutert Behrent. 

Ein großes Problem seien die Rahmenbedingungen an Schulen, so Behrent. An manchen Schulen werde auf Legasthenie wie auf eine erworbene, überwindbare Schwäche geblickt. "Dabei hat das Bundesverfassungsgericht die Legasthenie als Behinderung im Sinne des Grundgesetzes anerkannt." Legastheniker könnten also nur lernen, ihre Veranlagung zu kompensieren, nicht aber, sie zu überwinden. "Dieser Blick fehlt in der Schule."

Geduld und Akzeptanz gefordert

Die betroffenen Kinder litten sehr. "Sie sind intelligent, häufig besonders sprachbegabt. Sie bemühen sich sehr, müssen dreimal mehr leisten, aber kommen auf keinen grünen Zweig." Ihre Prüfungsangst bleibe oft ein Leben lang. Zudem sei das Thema schambesetzt. "Mehr Geduld und Akzeptanz wären wichtiger als jede Therapie", meint Behrent.

"Wir plädieren seit vielen Jahren für Notenschutz, um die Kinder zu entlasten", erläutert sie. Dabei lassen die Lehrkräfte auf Antrag die Rechtschreibung nicht in die Noten einfließen. Zudem solle Legasthenie verpflichtend Teil des Lehramtsstudiums sein, fordert Behrent. 

"Es braucht Förderung, Zuspruch und Unterstützung, vor allem in der Kindheit, und keine Demotivation durch kontinuierliches Problematisieren der Rechtschreibung", sagt auch Sebastian.

Notenschutz sei dabei das zentrale Mittel. "Und die Aufklärung von Lehrern und der Gesellschaft." 

Kultusministerium: Maximal fordern, ohne zu überfordern

Das hessische Kultusministerium setzt auf Notenschutz nur in Ausnahmefällen. Als Fördermaßnahmen kämen Unterricht in besonderen Lerngruppen, Binnendifferenzierung, Maßnahmen des Nachteilsausgleichs und Abweichungen von den allgemeinen Grundsätzen der Leistungsfeststellung oder Leistungsbewertung - der sogenannte Notenschutz - infrage, erläutert eine Sprecherin. 

"In der Praxis werden die Nachteilsausgleiche stufenweise angewendet. Dies geschieht nach den Grundsätzen "Maximal fordern, ohne zu überfordern", beziehungsweise es geht darum, Leistungen zu ermöglichen und nicht überflüssig zu machen."

Notenschutz nur in Ausnahmefällen

Der Notenschutz sei eine Maßnahme der Stufe drei und "sollte nur im Ausnahmefall sinnvoll beziehungsweise notwendig sein", erklärt die Sprecherin. Nachteilsausgleiche der Stufen eins und zwei - zum Beispiel "Verlängerte Arbeitszeiten, etwa bei Klassenarbeiten" oder "differenzierte Aufgabenstellung" kämen hingegen häufiger zum Einsatz und könnten ein Kind oft effektiver fördern als ein Aussetzen der Bewertung der Lese- und/oder Rechtschreibleistungen.

Der Umgang mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben und Rechnen findet dem Ministerium zufolge in allen drei Phasen der Lehrkräftebildung Berücksichtigung. Um insbesondere Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten gerecht zu werden, erhielten Studierende, Lehrkräfte im Vorbereitungsdienst und Lehrkräfte in vielfältigen Modulen und Fortbildungsangeboten Kenntnisse über den aktuellen Forschungsstand zum Schriftspracherwerb.

Zudem stehe mit der Handreichung "Besondere Schwierigkeiten beim Lesen, Rechtschreiben oder Rechnen" ein Nachschlagewerk zur Verfügung, "das aus der Praxis für die Praxis entstanden ist und Lehrkräften als Unterstützung für ihre tägliche Arbeit dient", so die Sprecherin. 

 

Stärke durch gute Erfahrungen 

Sebastian sagt, er habe viele Erinnerungen an seine Schulzeit verdrängt. Bis heute habe er eine recht starke Prüfungsangst. Insgesamt sei es für ihn aber leichter geworden. "Ich schreibe alles am Computer, da greift das Rechtschreibprogramm", schildert der Student. Es koste ihn aber vielleicht mehr Energie als andere, Texte zu formulieren. "Aber ich bin grundsätzlich jemand, der etwas durchzieht, wenn er es einmal angefangen hat. Ich habe mich in Teilen auch durchgebissen."

Die Angst, etwas nicht gut genug zu können, komme schon manchmal noch hoch. "Aber ich habe gute Erfahrungen gemacht, die helfen." Sein Bachelorstudium etwa hat Sebastian erfolgreich abgeschlossen, derzeit ist er im Masterstudium. "Das war für mich die formale Bestätigung, dass ich es trotzdem kann."

Sebastian sagt, ihm habe vor allem seine Mutter geholfen. "Sie hat mich immer unterstützt, viel mit mir gelesen und einen Schulwechsel organisiert." In der neuen Schule, einer Privatschule, die er dank eines Stipendiums besuchen konnte, sei dann vieles besser geworden. Seine Legasthenie gehe wie bei vielen Betroffenen mit einer Wahrnehmungsstörung einher. "Bei mir ist das eine auditive Störung. In einem lauteren Umfeld etwa ist das Herausfiltern von einzelnen Sprechern schwieriger für mich."

Gefühl von Selbstwirksamkeit

In der neuen Schule habe es kleinere und ruhigere Klassen gegeben, die Lehrer hätten ihn unterstützt, er habe in allen Fächern Notenschutz bekommen. "Das hat mir das Gefühl von Selbstwirksamkeit zurückgegeben." Die Abneigung gegen die Schule habe damals nachgelassen. "Hätte meine Mutter sich nicht so gekümmert, wäre ich wahrscheinlich nicht so weit gekommen", sagt Sebastian. 

Eltern seien bei dem Thema Legasthenie oft auf sich allein gestellt, meint er. "Sie müssen erst einmal überhaupt darauf kommen, dass es Legasthenie sein könnte." Dann müssten sie sie diagnostizieren lassen und Nachteilsausgleich, Notenschutz und die Förderung des Kindes an der Schule durchsetzen. "Es gibt viele Kinder, deren Eltern nicht so viel Zeit und Energie da hineinstecken können. Die bleiben auf der Strecke."

Quelle: dpa

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