Medizingeschichten
HÄMOPHILIE - KRANKHEIT DER KÖNIGE
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Der kleine Zarewitsch, 1904 geboren und Hoffnungsträger seiner Eltern, des russischen Zaren Nikolaus und seiner Frau Alexandra, war ein hübsches, intelligentes Kind. Doch der Junge war Bluter – eine Erbkrankheit, der man damals hilflos ausgeliefert war und die man nicht verstand. Geerbt hatte er das defekte Gen von seiner Urgroßmutter, Königin Victoria von England.
Das Kind durfte nicht toben, niemals Fahrrad fahren und wurde von zwei stämmigen Matrosen zu den offiziellen Terminen getragen, damit es sich nicht verletzte. Besonders schmerzhaft waren die Gelenkblutungen: Wie aus dem Nichts konnte sich der Kleine nicht mehr bewegen und weinte vor Schmerzen. Seine Mutter saß tagelang an seinem Bett und engagierte in ihrer Verzweiflung sogar einen Wunderheiler: Rasputin. Doch auch der vermochte am Zustand des kleinen Thronfolgers nichts zu ändern.
Faktoren in der Gerinnungskaskade fallen aus
Die Bezeichnung Hämophilie stammt aus dem Griechischen und setzt sich aus haima=Blut und philia=Neigung zusammen. Das Erscheinungsbild der Krankheit wird durch das Fehlen verschiedener Faktoren in der Gerinnungskaskade verursacht. Typische Probleme sind das vermehrte Auftreten von blauen Flecken an Armen, Beinen und dem Rumpf sowie schmerzhafte Einblutungen in Gelenke und Muskeln. Selbst oberflächliche Schnittverletzungen brauchen lange, bis die Blutung von selbst stoppt.
Die britische Königin Victoria war unerkannte Trägerin eines defekten Gens. Da die häufigsten Formen der Hämophilie X-chromosomal vererbt werden – und die Monarchin zahlreiche Nachkommen hatte – trugen sowohl die Söhne als auch die Töchter bei ihrer Verheiratung die „Krankheit der Könige“ in den europäischen Hochadel. Da Frauen über zwei X-Chromosomen verfügen, kann der defekt „ausgeglichen“ werden und die Krankheit tritt selten zutage – auch wenn diese Frauen häufiger eine erhöhte Blutungsneigung aufweisen. Männer wiederum erkranken immer, tragen sie ja nur ein X-Chromosom neben ihrem Y-Chromosom. Im Falle des kleinen Thronfolgers waren beide Eltern mit Victoria verwandt. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. kannte sich ebenfalls aus; er war schließlich ein Enkel Victorias und hatte zwei bluterkranke Neffen. Als er einen blauen Fleck auf der Stirn des Jungen bemerkte, der im Laufe des Tages nicht verschwand, soll er seinem Cousin, dem Zaren, den Zustand des kleinen Zarewitschs auf den Kopf zugesagt haben. Der hatte die Erkrankung des Kindes jahrelang wie ein Staatsgeheimnis gehütet.
Hämophilie
Unter dem Begriff Hämophilie, umgangssprachlich Bluterkrankheit, werden viele Erkrankungsformen zusammengefasst. Die häufigsten Formen – Hämophilie A und B – werden x-chromosomal-rezessiv vererbt, wodurch Männer wesentlich häufiger betroffen sind als Frauen. Durch den Gendefekt fehlen wichtige Faktoren innerhalb der Gerinnungskaskade. Daher kommen Blutungen nicht in der gewohnten Zeit zum Stillstand, Hämatome werden unverhältnismäßig groß und zahlreich; die Wundheilung ist verzögert. Bei der sogenannten Hämophilie A ist es der Gerinnungsfaktor VIII, bei der Hämophilie B der Gerinnungsfaktor IX. Die schwere Hämophilie A kommt mit einer Häufigkeit von 1:5000 der männlichen Neugeborenen vor und ist etwa fünf- bis sechsmal häufiger als die Hämophilie B. Seltenere Formen wie der Mangel an Faktor X, die Parahämophilie, die Angiohämophilie oder die Hämophilie C werden autosomal vererbt. Das bedeutet, dass der Defekt nicht auf den Genosomen (Geschlechtschromosomen) zu finden ist, wodurch sich eine ausgewogenere Geschlechterverteilung ergibt.
Eine Verblutungsgefahr besteht heutzutage praktisch nicht mehr. Dank der guten Therapiemöglichkeiten bei uns in Deutschland rechnet man mittlerweile mit einer der Normalbevölkerung vergleichbaren Lebenserwartung.
Hintergrundinformationen zur Hämophilie-Versorgung
Heute gibt es gute Behandlungsmöglichkeiten
Die Therapie der Bluterkrankheit blieb erstaunlich lange, bis in unsere moderne Zeit, rudimentär und etwas hilflos: Die Patienten bekamen noch bis 1970 Blutkonserven verabreicht; entstandene Hämatome wurden gekühlt. Man nutzte auch Fibrin, um Blutungen zu binden, was allerdings selten gelang. Erst danach konnten die einzelnen Gerinnungsfaktoren im Labor hergestellt werden, seit 1989 auch gentechnisch. An Hämophilie Erkrankte spritzen sich den passenden Faktor tageweise jeweils prophylaktisch oder akut; auch Infusionslösungen werden genutzt. Außerdem steht ein monoklonaler Antikörper namens Emicizumab bei Hämophilie A zur Verfügung, der die Rolle von Faktor VIIIa übernehmen kann und deshalb auch als Faktor VIII-Mimetikum bezeichnet wird. Die Verabreichung erfolgt subkutan, wöchentlich beziehungsweise alle zwei oder vier Wochen mit angepasster Dosierung. Heute können Bluterkranke also ein weitgehend normales Leben führen – nur verletzungsreiche Sportarten wie beispielsweise Eishockey sollten sie besser meiden.
Quellen:
Deutsche Hämophiliegesellschaft
gesundheitsinformation.de
Elisabeth Heresch: Alexej, der Sohn des letzten Zaren