Chronomedizin
THERAPIE IM EINKLANG MIT DER INNEREN UHR
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Wer glaubt, einem fehlt es an Taktgefühl – der irrt. Denn von Natur aus folgt der Mensch einem ganz speziellen Rhythmus, einem 24-Stunden-Takt. Was umgangssprachlich oft als innere Uhr bezeichnet wird, ist für Mediziner der zirkadiane Rhythmus (lateinisch für ungefähr einen Tag lang).
Der zirkadiane Rhythmus bestimmt darüber, wann wir wach sind und wann wir schlafen. Mehr noch: Organe, Gewebe, Zellen – sämtliche vitalen Prozesse im menschlichen Körper werden von der inneren Uhr beeinflusst und laufen in alle 24 Stunden neu beginnenden Schleifen ab. Finden diese periodischen Körperabläufe Berücksichtigung bei der Therapieplanung und Medikamentengabe, erhöht dies die Erfolgschancen.
Kleine Schweizer Uhrwerke in jeder Zelle
Die innere Uhr ist ein mächtiger Taktgeber, der sich sogar auf der Ebene einzelner Zellen nachweisen lässt. So steuert sie schlichtweg alle biologischen Prozesse im Körper und sorgt mit höchster Präzision dafür, dass die einzelnen Vorgänge perfekt ineinandergreifen und reibungslos ablaufen. Phasen der Regeneration wechseln sich im 24-Stunden-Takt ab mit Phasen der Aktivität. Zwei Hormone im Blut spielen dabei eine besonders wichtige Rolle: Cortisol und Melatonin.
Der Spiegel des Wachmacherhormons Cortisol steigt schon vor dem ersten Augenaufschlag am Morgen an und aktiviert den Körper. Direkt nach dem Aufwachen geht auch der Blutdruck in die Höhe und der Herzschlag beschleunigt sich. Um die Mittagszeit läuft die Produktion roter Blutkörperchen auf Maximum, während am späten Nachmittag die Körpertemperatur ihren Höhepunkt erreicht.
Gegen Abend mit Einsetzen der Dunkelheit beginnt dann die Ausschüttung des Schlafhormons Melatonin. Das führt dazu, dass Blutdruck, Puls, Atemfrequenz und Körpertemperatur wieder sinken, die Muskulatur sich entspannt und der Körper in den Sparmodus übergeht und schließlich einschläft.
Doch über Nacht stoppt der zirkadiane Rhythmus nicht etwa. Jetzt ist die Zeit der Regeneration gekommen: Der Körper schüttet Wachstumshormone aus, repariert defekte Zellen, erneuert Haut und Haar. Nerven- und Immunsystem werden auf Vordermann gebracht und das Gehirn sortiert sich, um neu Gelerntes zu verinnerlichen. Schließlich werden Herz und Kreislauf für den folgenden Tag vorbereitet und optimiert.
Die richtige Tageszeit für Medikamente
Aufgrund des zirkadianen Rhythmus arbeitet der Körper morgens, mittags und abends unterschiedlich. Chronomediziner (von griechisch chronos für Zeit) sind sich daher einig, dass es nicht egal sein kann, wann bestimmte Therapiemaßnahmen wie Medikamente verabreicht oder Operationen durchgeführt werden. Achim Kramer, Leiter des Arbeitsbereichs Chronobiologie am Institut für Medizinische Immunologie der Berliner Charité, sagt: „Eine Therapie, die den 24-Stunden-Takt des Organismus beachtet, ist einer Standardtherapie oft überlegen.“
„Berücksichtigt man chronobiologische Abläufe, erhöht dies nachweislich die Wirksamkeit von Medikamenten und verringert unerwünschte Nebenwirkungen.“
Kramer erläutert, dass beispielsweise Statine am besten abends eingenommen werden, weil die körpereigene Cholesterinproduktion vor allem nachts während des Schlafens stattfindet. Für Mittel gegen zu hohen Blutdruck ist umgekehrt der frühe Morgen die richtige Tageszeit, da der Blutdruck nachts absinkt und erst im Lauf des Tages wieder ansteigt.
Anders verhält es sich jedoch bei Menschen mit Diabetes oder Nierenerkrankungen. Sie nehmen blutdrucksenkende Tabletten besser abends ein, weil bei ihnen der Blutdruckabfall deutlich geringer oder ganz aus ausfällt.
Der Zeitplan von Schmerz und Schmerzempfinden
Im Tagesverlauf verändert sich auch das Schmerzempfinden und ist am frühen Nachmittag am geringsten. Diesen Umstand kann man sich zum Beispiel bei der Vereinbarung eines Zahnarzttermins zunutze machen. Das Bohren ist dann nicht mehr so schlimm. Gleichzeitig ist der Nachmittag auch die Zeit, in der Schmerzmittel am effektivsten wirken.
Kramer erklärt dieses Phänomen damit, dass Schmerz während der Tiefschlafphase intensiver sein muss, um den Betroffenen zu wecken, sodass er geeignete Abwehrmaßnahmen ergreifen kann. Dazu schüttet der Körper nachts weniger schmerzdämpfende Endorphine aus und ist in der ersten Tageshälfte schmerzempfindlicher.
Auch für Rheumapatienten bringt eine Therapieplanung nach der inneren Uhr schmerzlindernde Vorteile. Dazu sollen die ihnen verschriebenen Corticoide, welche auf dem Wachmacherhormon Cortisol basieren, am besten in den sehr frühen Morgenstunden wirken – idealerweise zwischen drei und vier Uhr. Das Cortison am Abend vor dem Einschlafen zu nehmen ist keine Alternative, sondern gefährdet nur den erholsamen Tiefschlaf.
Ein Mittel, welches abends eingenommen wird, aber den Wirkstoff retardiert erst früh morgens freisetzt, ist für Rheumatiker die optimale Lösung. Studien belegen, dass sich mit dieser Methode die für Rheuma typische Morgensteifigkeit deutlich reduzieren lässt.
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Weniger Nebenwirkungen dank Blick auf die Uhr
Den zirkadianen Rhythmus zu berücksichtigen kann ebenfalls die Wirkung von Krebsbehandlungen positiv beeinflussen. Nachmittags wirkt die Bestrahlung nämlich effektiver als morgens. Darüber hinaus ist sie dann auch besser verträglich.
Die Chemotherapie hingegen ist am wirksamsten, wenn die tumorzerstörenden Zytostatika zu einer Zeit verabreicht werden, in der sich die Krebszellen gerade teilen. Studien bestätigen außerdem, dass Krebsmedikamente zu bestimmten Zeiten für die gesunden Zellen weniger schädlich sind und somit auch weniger Nebenwirkungen verursachen. So kommen Patienten am Nachmittag mit einer geringeren Menge der benötigten Medikamente aus und auch die Schädigung der Haarwurzeln und damit das Risiko für Haarausfall sind dann am niedrigsten.
OP-Planung nach dem zirkadianen Rhythmus
Statistisch betrachtet laufen sogar Operationen zu bestimmten Tageszeiten erfolgreicher ab. Daher ist es auch bei der Planung von chirurgischen Eingriffen sinnvoll, die im zirkadianen Rhythmus periodisch schwankende Konstitution zu beachten. Etwa bei Herzklappen-Operationen, die am Nachmittag vorgenommen werden, kommt es anschließend zu signifikant weniger Komplikationen als bei Eingriffen am Morgen. Forschende führend das darauf zurück, dass der Körper den operationsbedingten Sauerstoffmangel nachmittags besser tolerieren kann.
Nach erfolgten Operationen ist es zudem hilfreich, wenn Patienten möglichst schnell wieder in einen stabilen inneren Rhythmus zurückfinden. Experten der Berliner Charité nutzen hierzu eine Art Lichthimmel über den Betten der Operierten, auf dem spezielle Programme den Tag-Nacht-Wechsel simulieren. Für mehr als die Hälfte der Operierten verringert sich dadurch die Verwirrung im postoperativen Delir.
USA sind Vorreiter der Chronomedizin
Noch steckt die Chronomedizin hierzulande in den Kinderschuhen. „Was in Deutschland bislang weitgehend fehlt, ist eine koordinierte Herangehensweise, die sämtliche medizinischen Fachgebiete umfasst. Denn ob bei Krebs und Stoffwechselerkrankungen, bei Rheuma und neurodegenerativen Erkrankungen – es gibt zahlreiche Beispiele und spannende, viel beachtete Berichte über Erfolge der zirkadianen Medizin“, so Kramer von der Charité.
Vorreiter auf dem Gebiet sind hingegen die USA. Dort gibt es bereits etliche Kliniken, welche sich den zirkadianen Rhythmus aktiv bei der Betreuung und Behandlung ihrer Patienten zunutze machen. So kommen ständig neue Erkenntnisse ans Licht.
Licht und Ernährung geben den Takt vor
Licht ist in diesem Zusammenhang ein gutes Stichwort. Es gibt nämlich maßgeblich den Takt an. Zu wenig Licht am Tag oder umgekehrt zu viel Licht am Tag und der zirkadiane Rhythmus kann aus dem Takt geraten. Deckt sich die innere Uhr nicht mit dem Hell-Dunkel-Kreislauf der Erde, stellt das eine beträchtliche Belastung für den Körper dar.
Ein Leben gegen den Takt kann zu Schlafstörungen und Depressionen führen.
Einen ebenso großen Einfluss auf die biologische Uhr hat außerdem die Ernährung. Achim Kramer sagt: „Ein Essensrhythmus, der jeden Tag eine nächtliche Fastenperiode von 14 oder 16 Stunden umfasst, hat deutlich positive Effekte auf verschiedene Stoffwechselprozesse.“ Experimente mit Mäusen zeigten, dass Tiere, die ihre gesamte Tagesration an Futterpellets auf einmal fraßen, länger lebten als solche, die Pellets stundenweise zu fressen bekamen.
Bei allen Menschen gehen die Uhren anders
Nicht bei jedem folgt der Lauf der eigenen inneren Uhr exakt dem Tag-Nacht-Rhythmus der Erde. Wann der individuelle Zeitmesser auf Null steht, unterscheidet sich von Mensch zu Mensch und kann um mehrere Stunden variieren. Die Anweisung, Medikamente morgens einzunehmen, kann daher für den einen sieben Uhr bedeuten und für den anderen zehn Uhr.
Wie tickt die eigene innere Uhr?
Wer herausfinden will, wie die persönliche biologische Uhr tickt, muss nur einen genauen Blick auf seinen Tagesablauf werfen. Wann hat man ein Leistungshoch, wann ein Tief und braucht vielleicht eine Erholungspause? Machen einem lange Abende etwas aus oder ist man nachts sogar am produktivsten? Wiederkehrende Rhythmen und Bedürfnisse geben Aufschluss darüber, ob man schon sehr früh am Tag leistungsfähig ist oder erst am späten Abend zur Bestform aufläuft. Bildhaft spricht die Chronomedizin hier von Lerchen und Eulen. Daneben gibt es weitere Chronotypen.
Um den individuellen Chronotyp objektiv zu ermitteln, haben Forschende der Berliner Charité einen speziellen Test entwickelt. Bei diesem werden aus Blutproben Zellen isoliert, deren Aktivität von mehreren Genen bestimmt wird, die entweder morgen-, abend- oder nachtaktiv sind. Ein Computerprogramm berechnet auf dieser Grundlage den genauen Stand der inneren Uhr. „Finden wir beispielsweise in einer um neun Uhr genommenen Probe, dass darin noch vorzugsweise Sechs-Uhr-Gene aktiv sind, haben wir es mit einem späten Chronotyp zu tun“, erläutert Kramer die Bedeutung der Chronotypen für die Therapieplanung.
Quelle: wissenschaft.de