Bücher, von denen man spricht
EINE FRAGE DER CHEMIE
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Wenn ein Autor eine Figur erschafft, erweist sich, ob er ein guter Autor ist. Elke Heidenreich, Sie kennen sie bestimmt aus ihren Büchersendungen, war hin und weg von „Eine Frage der Chemie“ und unterstellte Bonnie Garmus aus der Realität abgeschrieben zu haben.
„Elizabeth Zott ist so toll und natürlich dargestellt, dass ich sie sogar gegoogelt habe. Die muss es doch wirklich geben, hab ich gedacht!“ Ehrlich gesagt, ich bin selbst auch drauf reingefallen. Doch obwohl die ersten Kochshows in Amerika etwa um dieselbe Zeit über den Bildschirm flimmerten, ist Miss Zott die reine Fiktion.
Und wenn diese Frau einem trotzdem aus den Bücherseiten anspringt, ist es das Verdienst von Bonnie Garmus und ihre Lust am Erschaffen: „Von Anfang an wollte ich von einer Figur schreiben, die wusste, wer sie war, und sich nicht ständig in Frage stellte oder stundenlang darüber nachdachte, was oder wie sie sein sollte.“ Mit einem derartigen Selbstbewusstsein ausgestattet, bekommt sie natürlich Probleme – aber Elizabeth hat weder Zeit noch Lust, es anderen recht zu machen.
Halbsieben und ein Chemielabor Chemie zu studieren ist im Amerika der 60er als Frau schon mal eine Schnapsidee. In den von Männern dominierten Naturwissenschaften schafft sie es nicht, ihren Doktor zu machen, buttert im Chemielabor einer Uni vor sich hin und lernt glücklicherweise den brillanten Sonderling und Nobelpreis-Anwärter Calvin Evans kennen und lieben. Bis der von einem Polizeiauto aus Versehen überfahren wird, lebt und forscht sie mit ihm zusammen, will ihn aber (aus Prinzip) nicht heiraten.
Sie adoptieren einen Hund, nennen ihn nach seiner Ankunftszeit Halbsieben und nehmen ihn mit ins Labor, was dem neidischen Chef der beiden ein Dorn im Auge ist. Als Calvin verunglückt, schmeißt er „die Zott“ plus der Töle umgehend raus. Unter anderem deshalb, weil sie schwanger ist. Och Mann, da hat sich aber alles gegen die Heldin verschworen. Und wenn ihr nicht die Nachbarin zu Hilfe kommen würde, würde wahrscheinlich sogar sie in die Knie gehen.
Aber Harriet, die mit dem ekligen Mr. Sloane verheiratet ist, hält ihr den Rücken frei. Und so kommt es, dass Elizabeth ihre Küche in ein Chemielabor verwandelt und dem treuen Hund (der jedes Wort versteht) erklärt, was sie da gerade tut, als sie ein Hühnerei in die Schüssel gleiten lässt: „Jetzt breche ich die innere Bindung auf, um die Aminosäurekette zu verlängern“, erklärt sie und quirlt das Ei, „wodurch die freigesetzten Atome sich an andere ebenfalls freigesetzte Atome binden können. Dann rekonstruiere ich die Mischung wieder zu einem lockeren Ganzen, indem ich sie auf eine glatte Eisenkohlenstofflegierung gebe, auf der ich sie einer präzisen Wärmebehandlung unterziehe und die Mischung dabei gleichmäßig bewege, bis sie einen beinahe koagulierten Zustand erreicht.“
Hätten Sie‘ s gewusst? Elizabeth Zott bereitet ein Rührei zu.
Die Schreibweise von Essig Als eine Mitschülerin der Tochter Madeline immer die Lunchbox klaut, weil der Inhalt nämlich so lecker ist, macht die Mutter sich auf, um dem dazugehörigen alleinerziehenden Vater die Meinung zu sagen: Er solle das Mädchen mal an den Zügel nehmen und Pausensnacks selbst zu bereiten sei gar nicht so schwer. Der Vater ist Regisseur an einem drittklassigen Fernsehsender und erkennt sofort, dass er da ein Naturtalent vor sich hat: Zack, bekommt Elizabeth ihre eigene Kochshow.
Die bildhübsche Zott passt sich keinem Klischee an. Gleich in der ersten Sendung verschenkt sie das in ihren Augen lächerliche Studiointerieur an das Publikum; sie lächelt nie und deklamiert ernst die Zutaten ihres Spinatauflaufs: Natriumchlorid und CH3COOH kommen darin vor. Okay, es gibt ein paar Anrufe hinterher, man ist die umständliche Schreibweise von Essig nicht so gewohnt, aber als sich alles aufgeklärt hat, wird die Show ein Bombenerfolg, denn: „Kochen ist Chemie. Und Chemie ist Leben. Ihre Fähigkeit, alles zu ändern – Sie selbst eingeschlossen – beginnt hier.“
Sie schmeißt die Dosensuppe eines Sponsors vor laufender Kamera in den Müll, erklärt, sie sei Atheistin und nimmt den Hund mit, denn sonst wäre er ja den ganzen Tag allein (Halbsieben bekommt daraufhin prompt eigene Fanpost). Als der Produzent der Fernsehsendung sie bedroht und belästigt, holt sie das große Küchenmesser aus der Handtasche, woraufhin der Mann einen Herzinfarkt bekommt und in Ohnmacht fällt (sie holt das Messer wirklich nur raus. Sonst nichts.)
Ja, die Zott macht eben alles anders und irgendwann auch Schluss mit der Kochsendung, weil, sie will wieder ins Institut, ins Labor, sie will forschen. Und weil die Tochter mittlerweile eine Menge über ihren verstorbenen Vater herausbekommen hat – es spielen hier ein Waisenhaus, ein lügender Priester, eine reiche Sponsorin und ein geheimnisvoller Anwalt eine Rolle – wendet sich am Schluss alles zum Guten und die Bösen bekommen ihr Fett weg. Gottseidank, man wartet über 400 Seiten darauf!
Reizvolle Mischung Selten so etwas Schönes, Spannendes, Witziges gelesen. Elizabeth Zott betreibt die Emanzipation der Frau über ein so ungewöhnliches Instrument, dass einem beim Lesen erst bewusst wird: Es ist noch gar nicht so lange her, da brauchten Frauen für ein eigenes Bankkonto noch die Erlaubnis ihres Mannes. Selbst Bonnie Garmus hatte übrigens manchmal das Gefühl, dass ihre Hauptfigur das Regiment übernimmt: „Es kam vor, dass ich unwillkürlich laut sagte: ,Willst du das wirklich sagen, Zott?‘ Und sie antwortete: ,Wieso denn nicht?‘ Sie hat diese Mischung aus Naivität gepaart mit einer reizbaren Ungeduld: Sie behandelt Geschlechterklischees gleichsam wie Schreibfehler, wie kurzzeitige Aussetzer des Urteilsvermögens.“
Alle, die mit Elizabeth Kontakt hatten, ändern daraufhin ihr Leben: Es sind meist Frauen, die mit Notizbuch und Stift vor dem Fernseher sitzen („Hast du die Maillard-Reaktion verstanden?“), aber auch Männer kommen ins Grübeln. Denn bei der Zott lernt man nicht nur Kochen, ich erwähnte es bereits. Aber auch! „200 Grad Celsius/35 Min = Verlust von 1 H2O pro Mol Saccharose; insgesamt 4 in 55 Min = C24H36O18. Also was stimmt nicht mit dem Brötchenteig? Hätte fast ein Atom beim Isomerisierungsprozess verloren.“ Jetzt wissen Sie auch, wie Brötchen knusprig werden!
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2022 ab Seite 92.
Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin
Bonnie Garmus Eine Frage der Chemie
Hardcover mit Schutzumschlag Piper, 464 Seiten, 22 Euro, ISBN 978-3-492-07109-3