Bücher, von denen man spricht
PROJEKT LIGHTSPEED
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„Mein Lehrer“, sagte Uğur Şahin einst zu einem Journalisten, „wollte, dass ich auf die Hauptschule gehe. Erst durch das Einschreiten meines deutschen Nachbarn konnte ich aufs Gymnasium.Was für ein Glück. Denn so kann der 1965 geborene Sohn türkischstämmiger Gastarbeiter sein Abitur als Jahrgangsbester machen und ein Medizinstudium beginnen.“
Der Zufall – ein Glücksfall Ebenso seine spätere Frau: Özlem Türeci und er treffen sich in der Onkologie, da ist er schon junger Arzt und sie Studentin im letzten Jahr. Allzu oft müssen sie ihren Patienten, die Krebs im letzten Stadium haben, schlechte Nachrichten überbringen. Damals reift ihr Entschluss, ein wirksames Medikament gegen diese Krankheit zu finden. Als Uğur Şahin am 24. Januar 2020 in seinem Arbeitszimmer vor dem Computer sitzt, freut er sich über einen Tag ohne Termine. Das Nachrichtenmagazin Der Spiegel postet an diesem Tag auf seiner Homepage einen Leitartikel über fragwürdige Inhalte des Deutschrap.
Sahin scrollt weiter – und stößt im Wissenschaftsteil über eine neuartige Form von Atemwegsinfektion in der chinesischen Millionenstadt Wuhan. Da es ihn interessiert, sucht er in wissenschaftlichen Zeitungen weiter. Und ist alarmiert. Er verständigt seine Frau, die das Ganze anfangs ein klein wenig übertrieben findet. „Höchstwahrscheinlich“, sagt er zu ihr, „müssen im April Schulen geschlossen werden.“ Özlem, die gemeinsam mit Uğur die auf neuartige Krebsmedikamente spezialisierte Mainzer Firma BioNTech gegründet hat, berichtet später von diesem Gespräch: „Ich habe ihn sehr ernst genommen, weil er eine hohe Trefferquote hat, wenn es darum geht, aus komplexen Daten oder komplizierten Situationen mögliche Schlussfolgerungen abzuleiten.“ Die einzige Lösung, dieses Virus zu besiegen, bestehe in der Entwicklung eines Impfstoffes, sagt ihr Mann.
Nicht wenige halten ihn für verrückt Es beginnt ein wahnwitziger Wettlauf mit der Zeit. BioNTech hat große Vorkenntnisse mit der Nutzung der mRNA. Diese übertragen sie nun auf den Impfstoff, denn das Molekül fungiert sozusagen als Bote des genetischen Codes, mit dem der Körper dann Antikörper selbst herstellen kann. Als Şahin diese „Visionen“ seinen Mitarbeitern und potenziellen Geldgebern erläutert, halten ihn wohl nicht wenige für komplett verrückt. Um die Timeline noch einmal kurz zu verdeutlichen: Am 24. Januar 2020 gab es weltweit weniger als 1000 bestätigte Fälle der neuen Krankheit.
Am 25. Januar fassen Uğur und Özlem zunächst allein den Entschluss, einen Impfstoff herzustellen. Am Sonntagabend, dem 26. Januar, hat Uğur das Design der ersten acht Impfstoffkandidaten ersonnen. Am folgenden Tag wird der erste Fall von SARS-CoV-2 in Deutschland bestätigt. Am 11. März schließlich wird der neue Impfstoff Mäusen erstmals injiziert; am 12. März erklärt die Weltgesundheitsorganisation die Covid-19-Infektionen zur Pandemie. Akribisch und sehr genau folgt der Autor dieses Buches Özlem und Uğur durch ein unglaublich ereignisreiches Jahr. Wie Uğur einen kurzfristigen Expertentermin beim Paul-Ehrlich-Institut durchsetzt, denn er muss wissen, was für Dokumente er für eine beschleunigte Zulassung vorlegen soll.
Wie er im Februar seine Angestellten um sich versammelt, die mit dem Kopf schütteln: Völlig unmöglich in der kurzen Zeit. „Ich verstehe euch, aber das muss schneller gehen“, beschwört Uğur sie. Wie er kurz darauf im Familienurlaub auf den Kanaren die Computerbildschirme auf der Küchenzeile aufbaut und mit Özlem morgens um fünf, das Sakko über der Badehose, eine Videokonferenz mit China abhält. Uğur findet einen Anbieter, der die empfindliche mRNA in Lipidkomponenten einhüllen kann. Nur leider ist der in Österreich, woraufhin viele, viele Kleintransporter nach Wien und wieder zurück fahren.
Der Konferenzraum wird zur Kita Als der erste Lockdown kommt, erhält BioNTech keinerlei Sonderrechte: Die Verantwortlichen der Länder haben noch nie von der Firma gehört und erst recht nicht von dem Impfstoffprojekt, sodass die Kinder der Mitarbeiter von der Notbetreuung ausgeschlossen werden. Man funktioniert daraufhin kurzerhand einen der leerstehenden Konferenzräume zur Kita um. Pfizer lehnt zunächst ab, mit BioNTech zusammenzuarbeiten; die amerikanische Company glaubt nicht so recht an die wahnwitzige Idee eines völlig neuartigen Medikamentes - später überlegt sie es sich, wie wir alle wissen, doch anders.
Und natürlich braucht die kleine Mainzer Firma dringend die Entwicklungs- und Vertriebsallianzen des Pharmariesen. Am 24. Juli ist es dann so weit: Von den zwanzig mRNA-Kandidaten, die im Februar das „Projekt Lightspeed“ betreten hatten, sind vier klinisch getestet worden. Ende Mai hat sich einer als vielversprechend erwiesen. Jetzt, nur sechs Monate nachdem Uğur an seinem Schreibtisch saß und im The Lancet den Artikel über die asymptomatische Verbreitung gelesen hat, erblickt ein „nahezu perfekter“ Kandidat das Licht der Welt. Es ist die Geburtsstunde des Impfstoffs. Er hört auf den prosaischen Namen B2.9, und er löst eine über 90-prozentige Immunantwort aus.
Die EU kommt nicht in die Gänge Großbritannien sichert sich schon am 20. Juli 30 Millionen Impfdosen. Amerika ordert 100 Millionen mit der Option auf weitere 500 Millionen. Nur die EU hat noch nichts bestellt. Verblüfft verfolgen wir alle in den Nachrichtensendungen mit, dass ausgerechnet in dem Land, in dem die Gründerfirma ansässig ist, keine Lieferverträge abgeschlossen werden. Tja, wird EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen viel später resigniert sagen: „Ein Land kann ja ein Schnellboot sein, aber die EU ist mehr ein Tanker.“ Am 8. Dezember bekommt die Seniorin Maggie Keenan in einem englischen Altenheim die erste Impfung mit dem zugelassenen Vakzin. Die Spritze wandert danach ins Museum und liegt nun neben der Ampulle, die Edward Jenner einst für die Kuhpocken-„Vaccination“ benutzte. Am 21. Dezember wird dann der Impfstoff auch bei uns zugelassen.
Zwei, die nicht locker gelassen haben Und die beiden Gründer, deren Vision diesen Erfolg ermöglicht hat? Sie wohnen weiter in einer relativ kleinen Wohnung in Mainz und haben weder ein Auto noch einen Fernseher. Özlem und Uğur ziehen ihre Tochter groß und verfolgen jetzt ein weiteres Ziel: Sie arbeiten bereits an einem Impfstoff gegen Malaria. Krebsmedikamente sollen bald folgen. Ihr größter deutscher Geldgeber – die Zwillinge Sprüngmann, die durch ihre damalige Finanzspritze steinreich geworden sind, sind sich sicher: „Die behördliche Zustimmung für die personalisierten Therapien, die Uğur und Özlem sich als junges Paar in den 1990ern ausmalten, ist nur noch ein paar Jahre entfernt.“
Dann würden sie mit ihrer innovativen Therapie den Körper krebskranker Menschen dazu bringen, sich seine Medikamente selbst zu produzieren. Was, bitteschön, ist das Geheimnis ihres Erfolges? „Das zufällige Zusammentreffen des Gründerpaares“, meint der Autor Joe Miller, „formte einen Magnetkern, der auf höchst erstaunliche Weise Ideen und Menschen aus aller Welt anzog. Der entscheidende Wirkstoff hinter dem Vakzin BNT162b2 war nicht die RNA: Es waren vielmehr Uğur Şahin und Özlem Türeci.“
Diesen Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/2021 ab Seite 128.
Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin
Joe Miller mit Özlem Türeci und Uğur Şahin Projekt Lightspeed Der Weg zum BioNTech-Impfstoff – und zu einer Medizin von morgen
Gebundenes Buch, Rowohlt, 352 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-3-498-00277-0