Bücher, von denen man spricht
ALTERSLOS – GRENZENLOS
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Die Frage nach dem Altern, sie beschäftigt die Schauspielerin, Malerin und Buchautorin praktisch ihr Leben lang. Als 43-Jährige heiratete sie den Schauspieler Johannes Heesters – 89 war er da. Vor einigen Jahren starb der am Ende weltweit älteste noch aktiv darstellende Künstler mit 108. Die Liebe der beiden scheint groß gewesen zu sein. Bis zu seinem Tod blieben sie unzertrennlich; sie passte auf ihn auf, als er erblindete und führte ihn durch klippenreiche Interviews, deren Fragen er nicht mehr ganz verstand. Als begnadete Fotografin bildete sie ihren Jopie in formschönen Bildbänden ab, die die Würde des Alterns betonten. Nie ließ sie eine Frage daran, dass Arbeiten jung erhält, was sie in ihrem Bestseller „Sag nie, du bist zu alt“ auch wortreich darlegt.
Gut‘ Ding wollte Weile haben Ganz unverblümt tut sie ihre Meinung zum Ruhestand kund, und so klopfte ihr Verlag ein zweites Mal bei ihr an, fragte nach einem neuen Buchprojekt: „Dieses Mal lassen Sie Menschen zu Wort kommen, die beispielhaft sind für ein befriedigendes Altern“, sagte ihr Verleger. Und die Fotos durfte sie auch selbst machen. Rethel-Heesters machte sich auf, die Nikon in der Hand, und fragte aus, wen sie vor die Linse bekam: Mario Adorf war darunter. Peter Kraus, Jutta Speidel, Peter Maffay, Dietrich Grönemeyer. Der große Theatermann Otto Schenk, der einzigartige Klarinettist Rolf Kühn (siehe Foto). Und, und, und… „Leider hören wir in den Medien meist nur von den Schrecken des Alters. Aber das soll nicht mein Thema sein. Ich möchte Mut machen“, sagt sie im Vorwort. Für ihr Buch brauchte sie sieben Jahre; gut‘ Ding wollte Weile haben. Großformatig, im beinahe 30 mal 30 Zentimeter messenden Bildband, blicken sie uns an: Alte Menschen bei ihrer Tätigkeit.
Die alte Lehmbauerin, die erst überlegen muss, wie alt sie eigentlich ist: „76 oder 77? Ich denke, 77.“ Wenn sie gefragt wird, ob sie das denn nötig hat, sieben Tage die Woche auf der Baustelle zu sein, ist sie immer ganz perplex. „Selbstverständlich habe ich das nötig! Zu meinem Vergnügen und überhaupt!“ Der gleichaltrige ARD-Börsenexperte Frank Lehmann schätzt „die gewisse Gelassenheit, die sich automatisch einstellt, wen man aus dem Fegefeuer des Berufs raus ist.“ Stillstand ist Rückschritt, meinte er gern in seinen Sendungen und er hat eine klare Meinung: „Mit 65 beginnt ein neuer Lebensabschnitt und nicht der sogenannte Ruhestand. Das ist zwar offiziell so, aber wehe, man bleibt stehen! Wehe, man ist ruhig, dann kann man sich gleich beerdigen, dann ist Feierabend! Es beginnt ein ganz neuer Lebensabschnitt, und den muss man gestalten, da darf man sich nicht hinlegen.“ Und wie ist das mit den Gebrechen des Alters? „Alterserscheinungen hat jeder, bei mir sind es die Knie.“
Gesundheit ist oberstes Gut Rethel-Heesters fragt jeden der Interviewten, was sie sich denn von einer Fee wünschen würden, und fast jeder erwähnt die Gesundheit. Ist ja auch nicht so einfach. Das Alter habe auch etwas Beschämendes, meint Otto Schenk. „Mein Körper, mein Werkzeug, folgt dem Hirn nicht mehr.“ Und er zählt auf: „Auf eine geradezu verbrecherische Weise verlassen mich meine Sinne. Ich sehe schlechter, sodass ich mich nicht mehr getraue, Auto zu fahren. Ich höre schlechter, sodass ich meine Frau oft anschreie, weil sie zu leise spricht, und ich gehe schlechter.“ Nicht jeder kann wohl so sportlich sein wie Dieter Hallervorden. Der 85jährige macht jeden Morgen eine Stunde Sport („Habe versucht, das Gefährt in Form zu halten, das Chassis zumindest“), ist vor einigen Jahren eine Beziehung mit einer sehr viel jüngeren Frau eingegangen und hat ein eigenes Theater gekauft. Angst vor dem Tod hat er nicht, höchstens vor dem Sterben: „Ich möchte nicht, wenn ich krank werden sollte, aufgrund von Maschinen lange vor mich hingammeln.“
Sein Fazit: „Erstmal will ich hundert werden und dann sehen wir mal weiter.“ Alle Interviewten schätzen es, dass sie nun mehr Zeit haben. Um nachzudenken, um Kraft zu tanken, um Dinge neu zu bewerten. Gerade Wissenschaftler genießen es. Dietrich Grönemeyer, Mediziner und Autor des Bestsellers „Weltmedizin“, hat zusammen mit seinen Kindern ein Forschungsinstitut aufgemacht und sagt: „Ich glaube, wirkliche Langlebigkeit hat ganz viel mit mentaler und körperlicher Aktivität zu tun.“ Der Hirnforscher Professor Lutz Jäncke weiß: „Der Mensch ist eine Lernmaschine. Wir sind zum Lernen verdammt; unser Gehirn ist plastisch, also formbar, bis an das Lebensende.“ Er hat einen prima Tipp fürs Älterwerden: genügend Schlaf; das sei die „normalste und offensichtlichste Regeneration – neue Möglichkeiten werden für den kommenden Tag generiert. Unser Gehirn mag auch kein Multitasking, Überlastung und Stress ebenso wenig, es braucht Ruhe, sonst schaltet es nach einer bestimmten Zeit ab.“
Hauptsache aktiv – und neugierig Ein sehr anrührendes Interview hat Simone Rethel-Heesters mit dem Musiker, Komponisten und Dirigenten Rolf Kühn geführt. Der Mann – man muss zweimal nachschauen, damit man’s glaubt – ist Jahrgang 1929, gilt als einer der weltbesten Jazzklarinettisten. Er ist geradezu haarsträubend ehrlich; gibt zu, mit der heutigen Musik nichts mehr anfangen zu können („sagt mir nichts“), produziert aber immer noch CDs mit „wilden Jungs“, musiziert sehr aktiv mit einer kroatischen Cellistin und einem südamerikanischen Perkussionisten, war Leiter diverser Fernsehorchester, spielte mit Goodman und Artie Shaw, die Liste ist endlos. Rolf Kühn geht auch mit 92 täglich zwei Stunden Üben ins RIAS-Rundfunkgebäude. Hast du Angst vorm Älterwerden? fragt Rethel-Heesters ihn.
„Ich habe die Dinge immer so hingenommen wie sie sind. Man kann sich wie 50 fühlen, aber man muss es ja nicht. Und ich habe mich für das Letztere entschieden.“ Ob er gern mit älteren Menschen zusammen ist? Die interessieren ihn herzlich wenig, „ganz einfach, weil viele von ihnen negativ eingestellt sind und keine Neugierde mehr haben. Die haben alles erlebt – glauben sie zumindest. Und die meisten werden leider im Alter zu Egomanen, und es geht um nichts weiter als um die eigenen Belange. Das heißt, sie verlieren jegliches Interesse, du kannst weder über Theater noch über Ausstellungen oder sonstwas mit ihnen reden.“ Als die Autorin ihn fragt, welche drei Wünsche er noch hat, antwortet er klar: „Dass mein innerer Spirit so bleibt, wie er es immer in meinem Leben war. Dass mir meine unendliche Neugierde erhalten bleibt, immer offen zu sein für neue Dinge und Klänge. Und Gesundheit, um meine Wünsche zu erfüllen.“
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 08/2021 ab Seite 124.
Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin
Alterslos – Grenzenlos. Porträts und Gespräche über das Leben Hardcover mit Schutzumschlag Westend, 216 Seiten, 34 Euro ISBN: 978-3864892684