Finger über Kreuz.© BrianAJackson / iStock / Getty Images

Münchhausen-Syndrom

WENN EINE LÜGE ZUR KRANKHEIT WIRD

Jeder von uns sehnt sich nach menschlicher Nähe, Zuwendung und Aufmerksamkeit. Und die meisten haben Menschen, die ihnen diese Gefühle vermitteln. Aber es gibt Ausnahmen – und dann kann ein Münchhausen-Syndrom entstehen.

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Der Baron von Münchhausen wurde dadurch bekannt, dass er beeindruckende Geschichten erzählte und die Menschen zum Staunen brachte. Sie lauschten gebannt seinen Berichten, waren fasziniert von seinem Mut und seiner Weltgewandtheit, wollten mehr aus seinem Leben erfahren – und sie erfuhren mehr. Der Baron hatte offenbar unendlich viele großartige Abenteuer erlebt. Nun, wir wissen es besser: Seine Geschichten waren erfunden. Er brauchte anscheinend Bestätigung und wollte sich durch die fantastischen Geschichten selbst erhöhen und zum beachtenswerten Heroen machen. 

Das Bedürfnis nach Bedeutung ist nichts Außergewöhnliches, es wird allerdings bedenklich, wenn jemand zum Beispiel Krankheiten vortäuscht, um Mitgefühl und Aufmerksamkeit zu bekommen. Dieses als Münchhausen-Syndrom bekannte Verhalten wurde laut SL01, Suche nach „Münchhausen“ im Jahr 1951 vom britischen Mediziner Richard Asher erstmals in einer renommierten medizinischen Fachzeitschrift bezeichnet und beschrieben. 

Ein Simulant, der keiner ist

Die Betroffenen täuschen, spiegeln falsche Tatsachen vor, die sich auf den gesundheitlichen Bereich beziehen. Landläufig werden solche Menschen oft auch als Simulanten bezeichnet, was jedoch nicht korrekt ist, da Simulanten in Wahrheit gesund sind. Simulanten spielen Symptome vor, weil sie sich etwas davon erhoffen – eine Krankschreibung oder Rente beispielsweise.

Wirklich erkrankt sind sie hingegen nicht, was Sie unter SL02 Krankheiten/Krankheiten von A bis Z/M/Münchhausen-Syndrom erfahren. Der Münchhausen-Patient hingegen ist erkrankt, zwar nicht an dem, was er vorgibt, aber eben am Münchhausen-Syndrom. Unter SL02 lesen Sie auch, dass es Fälle gibt, in denen Betroffene „unter Umständen mehrere hundert Krankenhausbehandlungen beanspruchen, ohne körperlich krank zu sein“. 

Symptome nur schwer zu identifzieren

Nun, zunächst empfinden wir Menschen ja Mitgefühl, wenn wir feststellen, dass es einem anderen in unserem Dunstkreis schlecht geht. Wir sind besorgt, suchen nach Möglichkeiten, Schmerzen zu lindern und möglichst rasche Heilungserfolge zu erzielen. Das heißt, wir beschäftigen uns intensiv mit dem Kranken. Kommen noch sichtbare Verletzungen hinzu, scheint es ja auch keinerlei Zweifel an der Echtheit der geschilderten Beschwerden und deren Ursachen zu geben. 

Bei Münchhausen-Patienten handelt es sich auch um eine tatsächliche Krankheit, aber nicht um eine physische, sondern eine psychische. SL03/, Suche „Münchhausen“ klärt auf, dass das Münchhausen-Syndrom zu den sogenannten artifiziellen, sprich vorgetäuschten Störungen zählt. Manipulative Eingriffe mit dem Ziel der Symptomerzeugung sind die äußeren Zeichen.

Für Laien ist es schwer, die wahren Hintergründe zu erkennen, allein die Häufigkeit angeblicher Erkrankungen oder die bemerkenswert rasche Heilung in der einen oder anderen Situation machen hellhörig. Wenn die oder der Betroffene nicht gerade dabei erwischt wird, wie sie oder er sich eine Wunde zufügt oder krankmachende Tätigkeiten an sich selbst vornimmt, kann die Ursache der beklagten Krankheitssymptome leicht im Verborgenen bleiben.

Vielzahl von Auslösern

Es lassen sich durchaus zahlreiche persönliche und individuelle Gegebenheiten und Vorkommnisse im Leben der Betroffenen maßgeblich als auslösende Faktoren festlegen. So können zum Beispiel Stress in Verbindung mit einer schweren Persönlichkeitsstörung Ursache sein. In Verbindung mit Münchhausen wird häufig eine Borderline-Persönlichkeitsstörung beobachtet. Emotionale oder körperliche Misshandlungen in der frühen Kindheit, eigene frühere schwere Erkrankungen oder die von nahestehenden Personen können Auslöser sein. 

SL04, Suche „Auf sich selbst bezogene artifizielle Störung“ beschreibt weiter: „Sie scheinen Probleme mit ihrer Identität und/oder ihrem Selbstwertgefühl sowie mit instabilen Beziehungen zu haben. Das Vortäuschen einer Krankheit kann ein Weg sein, das Selbstwertgefühl zu steigern oder zu schützen, indem die Krankheit für Probleme im sozialen Umfeld oder Arbeitsleben verantwortlich gemacht wird, durch die Interaktion mit angesehenen Ärzten oder Kliniken oder indem sie vorgeben, einzigartig, heldenhaft oder medizinisch gebildet und kultiviert zu sein.“ Es gebe keine wirksame Behandlung, Psychotherapie könne jedoch helfen. 

Mit der grundsätzlichen Darstellung der vermeintlichen Krankheitssymptome geht bei Münchhausen-Patienten meist auch noch die überzogene Präsentation einher. Einer dramatischen Inszenierung gleich werden die Schmerzen dargestellt, und nicht selten fordern die Patienten vom Arzt eine Operation, obwohl er keine Ursachen für die geschilderten Beschwerden finden kann.

Eine anschauliche Schilderung lesen Sie unter SL05, Suche „Münchhausen“. Hier wird auch auf die neuere Variante Münchhausen-by-Internet (MBI) eingegangen, die der klinische Psychologe und Experte Marc D. Feldman aus den USA so nannte, und die mit der Internetanonymität zu tun hat.

Vielen tatsächlich am Münchhausen-Syndrom erkrankten Menschen ermöglicht diese, mehrere unterschiedliche Identitäten anzunehmen. So lassen sich vortrefflich Krankheitsgeschichten erfinden beziehungsweise initiieren.

Besonders perfide: Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

Eine weitere Form ist das Münchhausen-by-proxy- oder Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom. Dieses bezieht sich auf meist weibliche Patientinnen, die anderen Personen, am häufigsten ihren Kindern, körperlichen Schaden zufügen oder vortäuschen, sie wären krank, um ärztliche Hilfe zu erzwingen und selbst als Retterin zu gelten.

Unter SL06, Suche „Münchhausen Stellvertreter“/Wenn Eltern Symptome ihrer Kinder erfinden lesen Sie alles über relevante Zahlen und Ausprägung dieser Erkrankung, unter der Kinder sehr zu leiden haben. In sechs Prozent der Fälle kommt es sogar zum Tod der Kinder. Sollten also immer neue Symptome bei Kindern auftreten, meist dann, wenn die Mutter vor Ort ist, und sollten die Mütter mit ihren Kindern immer häufiger den Arzt wechseln, könnte ein Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom vorliegen. 

Falls Sie eines Tages einen Verdacht hegen, informieren Sie Bezugspersonen und die behandelnden Ärzte, im schlimmsten Fall die Klinik, in der ein Kind liegt. Alles Weitere übernehmen auch die Ämter. Es ist schwer, eine Abgrenzung zwischen wahr und falsch zu treffen, aber es lohnt sich, im Verdachtsfall genau zuzuhören und hinzuschauen, um folgenschweren Entwicklungen vorzubeugen.

Wolfram Glatzel, freier Journalist
Ursula Tschorn, Apothekerin

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