Enuresis
HARNINKONTINENZ AUCH BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN THEMA
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Noch im Land der Träume wird man plötzlich von lautem Weinen geweckt. Ein schneller Blick ins Bett des Nachwuchses zeigt einen großen nassen Fleck. Dabei war das mit dem Trockenwerden doch schon abgeschlossen, dachte man zumindest. Eine Situation, die bestimmt viele, wenn nicht sogar alle Eltern kennen und sie nicht größer beunruhigt. Häufen sich die nächtlichen Aktionen jedoch, treten sogar plötzlich wieder über Tag auf oder noch nach der Einschulung, stellt sich doch Nervosität ein. Auch für die Kinder sind die kleinen Malheurs nicht schön, sie schämen sich oder verheimlichen das Einnässen sogar – Familienstress ist vorprogrammiert.
Von der Windel zur Toilette
Es ist wie mit der festen Nahrung, dem selbstständigen Einkleiden oder später gar alleine wohnen: Irgendwann haben wir es alle geschafft – und so ist es auch mit dem Trockenwerden. Es handelt sich um einen physiologischen und psychologischen Reifungsprozess, den man nicht erzwingen kann. Die meisten Kinder verabschieden sich zwischen drei und sechs Jahren von der Windel, interessieren sich plötzlich verstärkt für die Toilette oder machen mit Gesten oder Worten auf eine verschmutzte Windel aufmerksam. Die Experten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) warnen vor einem verfrühten Toilettentraining, im schlechtesten Fall könne sich dadurch Angst vor dem Toilettengang einstellen oder das ersehnte Gegenteil eintreten: häufiges Einnässen. Vielmehr solle man das Kind spielerisch begleiten, gelassen bleiben und Hilfsmittel wie ein Töpfchen verwenden. Meist klappt es zuerst mit dem großen Geschäft und tagsüber besser als nachts.
Abhalten und Windelfrei – es geht auch ohne
Eine moderne Strömung in der Kindererziehung proklamiert seit einiger Zeit ein windelfreies Konzept. Die Basis hierfür bildet die individuelle Kommunikation zwischen Bezugsperson und Baby beziehungsweise Kleinkind. Demnach ist bereits ein Neugeborenes in der Lage unbewusst anzuzeigen, wann es muss und wird dann über ein kleines Töpfchen, ein Waschbecken oder ähnliches gehalten. Entscheiden sich Eltern für diesen Weg, müssen sie früh beginnen, denn nach drei bis fünf Monaten akzeptieren Babys, dass kleine und große Geschäfte in die Windel kommen. Das Konzept versteht sich nicht als Training, sondern soll dazu beitragen, dass das Kind seine Wahrnehmung für Ausscheidung behält und sein Bedürfnis, dies zu kommunizieren, nicht verliert.
Den Grundstein hierfür legt die Blasenkontrolle. Ein Säugling lässt noch unkontrolliert bis zu 20 Mal Urin ab. Sobald die Harnblase einen gewissen Füllungszustand erreicht hat, geht der Urin unwillkürlich ab – ein Reflex. Zwischen dem ersten und zweiten Lebensjahr bemerken Kinder überhaupt den Harndrang. Das Nervensystem hat sich so weit entwickelt, dass ein Kind registriert, wenn die Harnblase gefüllt ist. Die Häufigkeit der Blasenentleerung nimmt ab. Im häufig erst dritten Lebensjahr entwickeln sich die Nervenbahnen so differenziert, dass der Blasenschließmuskel kontrolliert werden kann – das Kind spürt,wie die Blase vollläuft. Und erst Ende des dritten Lebensjahres (oder je nach körperlicher Entwicklung auch später) sind Kinder überhaupt in der Lage, ihrem Harndrang nicht sofort zu folgen, sondern die Entleerung noch hinauszuzögern. Nun kann die Blase auch willkürlich entleert werden – der Körper ist bereit. Manchmal ist es der Kopf aber noch nicht. Im Alter von sieben Jahren nässt noch jedes 20. Kind tagsüber und jedes zehnte Kind nachts ein. Doch auch ein spätes Einnässen ist möglich, drei Prozent der über 18-Jährigen kann dieses Problem betreffen. Dabei können organische wie psychologische Faktoren eine Rolle spielen.
Wann greift der Arzt ein?
Ein sich einnässendes Baby gilt als normal. Mit zunehmendem Alter steigt jedoch der Druck auf Familien und Kleinkinder „trocken zu werden“, mitunter werden Kinder gehänselt oder als Sonderlinge behandelt, wenn die meisten der Gleichaltrigen keine Windel mehr benötigen. Als Stichtag laut der gängigen Klassifizierungssysteme zur Diagnosestellung gilt der fünfte Geburtstag. Davor sprechen Fachleute von einer physiologischen, danach von einer nicht-physiologischen Harninkontinenz. Natürlich bewerten Eltern und die betroffenen Kinder diesen Zeitraum ebenfalls, niemand muss am Tag des fünften Geburtstages beim Kinderarzt vorstellig werden, nur weil es noch nicht (ganz) ohne Windel klappt. Manche Familien gehen entspannter mit dem Thema um als andere, sorgen sich auch nicht, wenn das Kind 15 oder älter ist. Enuresis (Einnässen) und Enuresis nocturna (nächtliches Einnässen) müssen also nicht pathologisch sein. Dennoch kann eine anhaltende Inkontinenz ähnlich belastend sein wie eine chronische Erkrankung. Komorbiditäten sind nicht selten: Obstipation, Stuhlinkontinenz, Harnwegsinfektionen oder ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) belasten dann zusätzlich.
Die Klassifizierung nach International Childrens Continence Society (ICCS)
Suchen Familien ärztlichen Rat, wird neben einem fragebogenbasierten Anamnesegespräch eine körperliche Untersuchung durchgeführt, um organische Ursachen auszuschließen. Eine organische Harninkontinenz ist selten, tritt meist im Zusammenhang mit Tumoren, einer Spina bifida (Neuralrohrfehlbildung) oder fehlgebildeter ableitender Harnwege auf.
Die nicht-organische Harninkontinenz teilt sich auf in eine:
- monosymptomatische Enuresis (nocturna); kurz MEN:
Eine nächtliche, vollkommene Entleerung der Blase, von der Jungen eineinhalb Mal häufiger Betroffen sind als Mädchen. Die Ursache ist noch unklar, diskutiert wird eine genetisch bedingte Reifungsstörung, wodurch die Kinder nicht von ihrem Harndrang geweckt werden. Ist die Urinausscheidung zudem erhöht, könnte ebenfalls ein Adiuretin (Vasopressin, antidiuretisches Hormon, ADH)-Mangel oder ein Trinkfehlverhalten vorliegen. - nicht-monosymptomatischen Enuresis (nocturna), kurz non-MEN:
Das Kind nässt nicht nur nachts sondern auch am Tag ein. Eine nicht-organische Blasendysfunktion verursacht hierbei die Symptome am Tag. Jedoch kommt es nicht immer zum Einnässen am Tag, die Dysfunktion kann sich unterschiedlich äußern – das Verhalten des Kindes muss genau beobachtet werden. Dies kann zum Beispiel sein: häufige, teils plötzliche Toilettengänge mit oder ohne Dranginkontinenz, verschiedene Haltemanöver (in die Hocke gehen, in den Schritt fassen) oder im Gegenteil der Toilettengang wird aufgeschoben, Urin zurückgehalten oder es bildet sich Restharn mit häufigen Harnwegsinfekten. Das Wasserlassen kann auch fehlkoordiniert verlaufen, immer wieder unterbrochen und so verlängert werden.
Ab Schulkindalter gewinnt auch das Trinkveralten an Bedeutung. Um beispielsweise den Unterricht nicht zu stören, trinkt ein Kind weniger über Tag – oder vergisst es schlicht. Die fehlende Flüssigkeit wird abends nachgetankt und das Kind geht mit voller Blase schlafen. - und die funktionelle Harninkontinenz:
Am Tag verläuft diese Form wie eine non-MEN, nachts treten allerdings keine Probleme auf und die Kinder bleiben trocken.
Daneben lassen sich bei allen Formen noch in primäre Harninkontinenz, bei der Betroffene noch nie trocken waren, und sekundäre Harninkontinenz, bei der sich nach mindestens sechs Monaten Trockenheit wieder Inkontinenzprobleme einstellen, unterscheiden.
Traumata und Belastungen verändern vieles
Vor allem für die sekundäre Enuresis nocturna, also „nächtliche Rückfälle“, kommen psychosoziale Faktoren ins Spiel. Selbst nach Monaten oder Jahren können plötzlich wieder kleine Unfälle – vor allem nachts – auftreten. Das können offensichtliche emotionale Belastungen sein, wie ein Todesfall in der Familie oder der Umzug in eine andere Stadt. Aber auch positive große Veränderungen können Ursache sein, wie die Geburt eines Geschwisterkindes oder die Einschulung. Auch Streit mit anderen Kindern, den Eltern oder Erzieher*innen/Lehrer*innen können einen „Rückfall“ herbeiführen. Für die Eltern sollte dabei klar sein, dass kein Kind absichtlich ins Bett macht. Es schämt sich vielmehr und braucht in dieser Zeit viel Zuspruch und Mut seitens der Erziehungsberechtigten, dass es schon bald wieder vorbei und alles halb so wild ist.
Hilfsmittel und Pharmazeutika
Im Vordergrund stehen bei allen Formen der nicht-organischen Harninkontinenz Gespräche: Innerhalb der Familie, um die Motivation für eine Therapie zu klären, mit dem Arzt, um Ziele festzulegen und Ängste zu beseitigen. Zudem wird ein Miktions- und Verhaltensprotokoll erstellt, zuvor und während der Therapie. Dann wird je nach Diagnose unterschiedlich vorgegangen:
- MEN:
In diesem Fall können Windeln oder Bettvorlagen auf Rezept verordnet werden, sollte das Kind dies akzeptieren. Die Trinkmenge sollte gut über den Tag verteilt sein, wobei ein bis zwei Stunden vor dem Zubettgehen nichts mehr getrunken wird. Sinnvoll ist es auch, vor dem Schlafen noch einmal zur Toilette zu gehen (oder generell die Toilettengänge nach Uhrzeit zu planen), nachts ein Licht brennen zu lassen oder ein Töpfchen in der Nähe des Bettes zu platzieren. Häufig genügen diese Maßnahmen, die man als Urotherapie zusammenfasst, schon. Das Ziel ist es, dass Kopf und Blase besser zusammenarbeiten.
Bei der speziellen Urotherapie kommen Alarmsysteme ins Spiel, wie Klingelhose oder Klingelmatte. Gerät das Hilfsmittel mit Flüssigkeit in Kontakt, ertönt ein Alarmsignal und das Kind sollte zur Toilette begleitet werden und dort noch einmal versuchen Wasser zu lassen.
Da ein ADH-Mangel als Ursache diskutiert wird, ist der Einsatz von Desmopressin – einem synthetischen ADH-Analogon – möglich. Die Standarddosierung liegt bei 0,2 Milligramm (Tablette) beziehungsweise 120 Mikrogramm (Schmelztablette) eine Stunde vor dem Schlafengehen. Die Dosis kann bei Bedarf verdoppelt werden. Wichtig ist das langsame Ausschleichen, da es nach plötzlichem Absetzen zu Rückfällen kommen kann. Die Urotherapie ist der Pharmakotherapie überlegen. - Non-MEN:
Auch hier erfolgt hauptsächlich eine Urotherapie: vor allem regelmäßige Toilettengänge in Ruhe (um Restharnbildung zu vermeiden) und bequemer Haltung (Beckenbodenentspannung, kein „Abdrücken“ der ableitenden Harnwege, Halt für die Füße), sowie Genitalhygiene stehen im Vordergrund. Je nach Ausprägung der Tagessymptomatik kann die Therapie mit Arzneistoffen begleitet werden.
Kinder mit überaktiver Blase und ausgeprägtem plötzlichen Harndrang können von Anticholinergika profitieren. Propiverin gilt aufgrund seines günstigen Nebenwirkungsspektrums als Mittel der Wahl, Oxybutynin und Trospiumchlorid (ab dem 12. Lebensjahr) sind ebenfalls zugelassen. Die Ansprechraten liegen zwischen 65 bis 87 Prozent, in placebokontrollierten Studien zeigte jedoch das Placebo ebenfalls eine hohe Wirksamkeit. Ein nicht zu unterschätzbarer Fakt, denn unerwünschte Wirkungen einer anticholinergen Therapie können neben Obstipation Mundtrockenheit, Tachykardie, vermindertes Schwitzen mit der Gefahr der Überhitzung, Akkomodationsstörungen und zentrale Nebenwirkungen wie Schlafstörungen oder Konzentrationsschwäche sein – wenn auch diese eher selten auftreten. Wichtig ist hierbei auch das langsame Ausschleichen des Wirkstoffes.
Bei dyskoordinierter Miktion können sogenannte Biofeedbackgeräte zum Einsatz kommen: Spezielle Elektroden leiten die Muskelfunktion des Beckenbodens ab und stellen sie für das Kind auf einem Monitor dar. Es können spielerisch verschiedene Programme durchlaufen und so ein zunehmendes Beckenbodengefühl entwickelt werden. Bei entsprechender Compliance ist die Methode sehr effektiv.
Nach drei bis vier Monaten Trockenheit, wird die Therapie schrittweise reduziert – bei entsprechender Kombinationstherapie zunächst die Pharmakotherapie, dann die Alarmhilfsmittel und zum Schluss die Urotherapie.
Quellen:
https://www.kindergesundheit-info.de/themen/entwicklung/entwicklungsschritte/trocken-und-sauberwerden/
https://www.babelli.de/windelfrei/
https://www.urologie-badkissingen.de/35-297-681-Entwicklung-der-Blasenkontrolle.html
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/gezielte-therapie-hat-gute-erfolge-127624/
https://www.kinderaerzte-im-netz.de/krankheiten/einnaessen-enuresis-inkontinenz/was-ist-enuresis-inkontinenz/