Adipositas
PTA-Fortbildung

Über Gewicht: Adipositas verstehen und behandeln

Übergewicht macht krank. Adipositas wäre leicht zu besiegen, würden die Betroffenen sich nur zusammenreißen. Sie müssen einfach mehr Energie verbrauchen als zu sich nehmen. Stimmt das? Warum leicht sein gar nicht so leicht ist.

20 Minuten

Über die Hälfte der Erwachsenen in Deutschland bringen mehr als Normalgewicht auf die Waage, adipös sind 19 Prozent. Fettleibigkeit begünstigt zahlreiche Folgeerkrankungen. Auch die psychische Belastung ist immens. Die Lösung ist eigentlich denkbar einfach: Man muss mehr Energie verbrauchen als aufnehmen, eine Diät und Sport also.

Doch so simpel ist es nur theoretisch. Viele weitere Faktoren bestimmen das Körpergewicht, von den Genen über das Essverhalten als Kind bis hin zu Erkrankungen und Arzneimitteln. Sowohl über die Gefahren durch Übergewicht als auch über Strategien zum Abnehmen kursieren Mythen und Irrtümer, nicht nur im Netz.

LERNZIELE

Lernen Sie in dieser von der Bundesapothekerkammer akkreditierten Fortbildung unter anderem,  

  • wann wir von Übergewicht und Adipositas sprechen,
  • unter welchen Stigmata Betroffene zu leiden haben,
  • welche Ursachen und Faktoren Adipositas begünstigen,
  • welche Folgekrankheiten ein hohes Gewicht begünstigt,
  • auf welchen Säulen eine Adipositas-Therapie fußt und
  • welche Arzneimittel gegen Adipositas es gibt.

Leidensdruck durch Mehrgewicht

Nicht zuletzt ist das Thema emotional aufgeheizt. Der Leidensdruck ist immens: Von 4000 Befragten wollte 2006 fast die Hälfte lieber ein Jahr ihres Lebens opfern, als fett zu sein. Zwischen 15 und 30 Prozent gäben ihre Ehe auf oder die Chance, Kinder zu bekommen, würden depressiv oder alkoholabhängig werden, um nicht adipös zu sein. Fünf Prozent würden lieber eine Gliedmaße verlieren, vier Prozent lieber erblinden.

Und zu wohl keiner anderen Erkrankung bekommen Betroffene so viel Meinung von Außenstehenden zu hören oder Hassnachrichten zu lesen. Dabei sind keineswegs nur dünne Menschen oder Fitness-Fanatiker, sondern auch dicke Menschen selbst fettfeindlich voreingenommen.

Was sind Stereotypen, was Fakten? Und vor allem: Was hilft denn nun wirklich bei Adipositas?

Begriffe klären: Übergewicht und Adipositas

Der übliche Anhaltspunkt, um das Körpergewicht einzustufen, ist der Body-Mass-Index (BMI). Er errechnet sich als Verhältnis des Körpergewichts in Kilogramm zur Körpergröße in Metern zum Quadrat. Eigentlich hätte der BMI damit die Einheit kg/m², er wird aber meist dimensionslos angegeben.

BMI = Körpergewicht (kg) : (Körpergröße (m) x Körpergröße (m))

Für Erwachsene bis 45 Jahre gilt ein BMI

  • unter 18,5 als Untergewicht,
  • zwischen 18,5 und 24,9 als Normalgewicht,
  • ab 25 als Übergewicht
  • und ab 30 als Adipositas.

Die Grenzen sind zudem alters- und geschlechtsabhängig: Senioren dürfen etwas mehr, Frauen auch etwas mehr wiegen, um als normalgewichtig zu gelten.

Adipositas wird in drei Schweregrade unterteilt:

  • Grad I bis zu einem BMI von 34,9,
  • Grad II bis 39,9
  • und Grad III ab BMI 40

Diese Einteilung stammt von der Weltgesundheitsorganisation WHO, die Adipositas als eigenständige Krankheit anerkannt hat. Adipositas ist auch nach der medizinischen Klassifikationsliste ICD-10 eingestuft: Sie hat den Diagnoseschlüssel E66.

Adipositas in Deutschland

Der Deutsche Bundestag hat Adipositas im Juli 2020 als behandlungsbedürftige Erkrankung anerkannt. Damit haben die Gesetzgeber den Auftrag, Forschung, Prävention und Aufklärung voranzutreiben, Stigmata und Diskriminierung abzubauen, Ärzte und andere Behandelnde weiterzubilden.

Außerdem soll die individuelle, multimodale und interdisziplinäre Versorgung von Menschen mit Adipositas zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen ermöglicht werden. Der Gemeinsame Bundesausschuss muss jetzt also die Studienlage prüfen und dann festlegen, ob die Kassen künftig mehr Behandlungsmethoden und Arzneimittel übernehmen.

Dick und krank?

Das Sterblichkeitsrisiko von Erwachsenen mit einem BMI zwischen 25 und 27,4 ist um fünf Prozent geringer, zwischen BMI 27,5 und 29,9 sogar um sieben Prozent als bei Menschen mit Normalgewicht. Ab einem BMI von 30, bei älteren Erwachsenen ab 35, steigt das Sterblichkeitsrisiko dann wieder an auf bis zu 108 Prozent.

Das Risiko für Folgeerkrankungen hängt ab vom Geschlecht, dem Stoffwechsel und der körperlichen Aktivität. Zwischen 40 und 50 Prozent der übergewichtigen Frauen und 30 bis 40 Prozent der übergewichtigen Männer sind stoffwechselgesund und aktiv. Unter den Adipösen liegt der Anteil bei 15 bis 30 Prozent. Bei den anderen jedoch sind Blutzucker-, -fett und -druck schon bei leicht erhöhtem BMI bedenklich angestiegen. Schon ab einem BMI von 27 steigt ihr Risiko für Diabetes, Herzinfarkt, Schlaganfall, Fettleber und Arthrose.

Funfact: Die Sache mit dem BMI

Sie merken schon, der BMI allein ist kein Indikator für die Gesundheit des Einzelnen. Dafür war er auch nie gedacht. Der Astronom und Mathematiker Adolphe Quetelet entwickelte die Formel 1832 als statistische Kenngröße. Die Datengrundlage lieferten 6000 schottische Soldaten.

Selbst, wenn wir den BMI also nur als statistischen Richtwert statt als individuellen Risikofaktor betrachten, berücksichtigt die Formel weder Geschlecht noch Ethnie, Genetik, Fettverteilung, Stoffwechsel oder Fitness. Die Bezeichnung Body-Mass-Index erhielt die Formel 1972 vom Ernährungswissenschaftler Ancel Keys. Auch er empfahl den BMI nur für den statistischen Vergleich von Populationen, nicht für die Beurteilung der Übergewichtigkeit von Einzelpersonen.

Dennoch nutzten US-amerikanische Lebensversicherer die einfache Einstufung, um Versicherungsbeiträge zu berechnen. Die WHO verwendet den BMI seit Anfang der 1980er-Jahre. Der Zeitdruck im Gesundheitswesen heute erlaubt Ärzten maximal 15 Minuten, um Entscheidungen über den Zustand und die Therapie ihres Patienten zu fällen. Aussehen und BMI verleiten dann zu vorschnellen Urteilen.

Andere Kennzahlen berücksichtigen zumindest die Fettverteilung im Körper. Das tiefliegende Fett rund um die Organe der Bauchhöhle, das Viszeralfett, ist mehr als nur eine Gewebeschicht. Es ist metabolisch und entzündlich aktiv. Einige Formeln beziehen das Viszeralfett ein, indem sie mit dem Bauchumfang rechnen, etwa das Taillen-Größen-Verhältnis (Waist-to-Height-Ratio) und der Body-Shape-Index (BSI). Doch Geschlecht, Ethnie und Fitness finden auch hier keine Beachtung.

 

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