Über Gewicht: Adipositas verstehen und behandeln
28 Minuten
- 1Was ist eigentlich Übergewicht?
- 2Gewicht und Gesellschaft
- 3Ursachen für Adipositas – Teil I
- 4Ursachen für Adipositas – Teil II
- 5Wenn Gewicht krank macht
- 6Adipositas behandeln
- 7Medikamente und Magen-OPs
- 8Lernerfolgskontrolle
01. November 2024
Arzneimittel bei Adipositas
Medikamente können die Ernährungs-, Bewegungs- und Verhaltenstherapien unterstützen. Ein großer Anteil der Adipositas-Betroffenen kann nur mit ihrer Hilfe dauerhaft das Gewicht reduzieren.
Orlistat
Seit 1998 ist Orlistat in der Dosierung von 120 Milligramm verschreibungspflichtig für Erwachsene zugelassen, seit 2007 gibt es eine apothekenpflichtige Variante mit 60 Milligramm. Die Kapseln nimmt man dreimal täglich ein; zu jeder Hauptmahlzeit. Als Lipasehemmer bindet Orlistat im Magen und oberen Dünndarm an fettverdauende Enzyme. Diese Lipasen werden so inaktiviert und spalten rund 35 Prozent der Nahrungsfette nicht mehr in verwertbare Bestandteile auf, wodurch die Kalorienaufnahme sinkt. Auch Vitamine und einige Arzneimittel werden so nur noch unvollständig resorbiert.
Die unverdaut ausgeschiedenen Fette erklären einen Großteil der Nebenwirkungen: Sehr häufig kommt es zu Bauchschmerzen, Flatulenz mit Stuhlabgang, Fett- und flüssigen Stühlen, häufig zu Stuhlinkontinenz und Blähungen. Auch Störungen des Menstruationszyklus und Abgeschlagenheit sind häufig. Wer eine Malabsorptionsstörung hat oder schwanger ist, darf Orlistat nicht einnehmen. Der Wirkstoff geht in die Muttermilch über und ist deshalb in der Stillzeit kontraindiziert.
Die Therapie kostet, je nach Fertigarzneimittel, etwa 60 Euro im Monat. Senkt das Arzneimittel das Ausgangsgewicht nicht innerhalb von zwölf Wochen um mindestens fünf Prozent, soll die Therapie abgebrochen werden.
Dapagliflozin
Dapagliflozin ist seit 2012 bei Diabetes Typ 2 und chronischer Herzinsuffizienz zugelassen, seit 2014 auch in der Kombination mit Metformin. Bei diesen Indikationen übernimmt die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) die Kosten. Dapagliflozin senkt außer dem Blutzucker auch den Blutdruck und das Gewicht. Es hemmt das Transportprotein SGLT-2 in der Niere. So senkt Dapagliflozin die Rückresorption von Glucose aus dem glomerulären Filtrat, sie wird stattdessen mit dem Urin ausgeschieden. Osmotisch folgt Wasser nach und wird mit ausgeschieden.
Unabhängig von den Mahlzeiten nimmt Ihre Kundin oder Ihr Kunde eine Tablette mit zehn Milligramm Dapagliflozin täglich ein. Weisen Sie darauf hin, dass es selten zu einer diabetischen Ketoazidose kommen kann. Sie äußert sich beispielsweise durch Übelkeit oder Erbrechen, Bauchschmerzen, großen Durst, Verwirrtheit oder Müdigkeit und raschen Gewichtsverlust. Der Atem, der Urin und der Schweiß können süßlich riechen. Die diabetische Ketoazidose muss umgehend behandelt werden.
Der Piks gegen Pfunde: Abnehmspritzen
In den letzten Jahren kamen drei sogenannte Abnehmspritzen auf den Markt. Liraglutid erhielt 2009 bei Typ-2-Diabetes unter dem Namen Victoza® die Zulassung in Europa, 2015 als Saxenda® bei Adipositas. Semaglutid wurde 2018 als Ozempic® bei Diabetes Typ-2 zugelassen und 2020 in den Markt eingeführt, gegen Adipositas folgte es 2022/23 unter dem Namen Wegovy®. Der neueste Wirkstoff, Tirzepatid (Mounjaro®) ist seit 2022 bei Diabetes Typ 2 und seit 2023 bei Adipositas zugelassen.
Liraglutid ist ein Agonist am GLP-1-Rezeptor auf der Bauchspeicheldrüse. Es sorgt dafür, dass Glucagon-Like-Peptide-1 ausgeschüttet und in den Blutkreislauf abgegeben wird. Physiologisch erfolgt die GLP-1-Ausschüttung nach dem Essen. Es senkt das Hungergefühl und die Magensäuresekretion, wodurch der Magen seinen Inhalt langsamer in den Darm entleert. Die Injektion vereinfacht es, die tägliche Nahrungsmenge zu reduzieren. Außerdem wird die Insulinproduktion stimuliert. Das Gewicht sinkt, dabei wird vor allem Fettmasse abgebaut. Liraglutid wird einmal täglich subkutan in den Bauch, den Oberschenkel oder den Deltamuskel am Oberarm injiziert.
Semaglutid ist auch ein GLP-1-Rezeptoragonist. GLP-1 gehört zu den Inkretinen, einer Gruppe von Darmhormonen. Deshalb nennt man Liraglutid und Semaglutid auch Inkretin-Mimetika. Semaglutid bindet, anders als Liraglutid, auch an das Bluteiweiß Albumin und bildet so Depots. Deshalb braucht es nur einmal wöchentlich angewendet zu werden.
Tirzepatid ahmt zusätzlich das glucoseabhängige insulinotrope Peptid (GIP) nach, ein weiteres Inkretin. Daher kommt die Bezeichnung „Twinkretin“. In den Zulassungsstudien konnten die Probanden ihr Körpergewicht innerhalb von 72 Wochen um durchschnittlich 26,6 Prozent senken.
#OzempicBabys
In den sozialen Medien berichten Frauen darüber, dass sie nach jahrelanger Unfruchtbarkeit ungeplant schwanger wurden – nachdem sie Semaglutid oder Tirzepatid angewendet hatten. Abwegig ist das nicht: Die verbesserte Insulinantwort und die Gewichtsreduktion können ein verschobenes Hormongleichgewicht wieder geraderücken. Und die verzögerte Magenentleerung beeinflusst womöglich die Bioverfügbarkeit oraler Kontrazeptiva. Die amerikanischen Herstellerinformationen raten bereits zur Verhütung mit einer Barrieremethode jeweils vier Wochen nach einer Dosissteigerung.
Die Abnehmspritzen werden in Zeiträumen von vier Wochen langsam aufdosiert. Gerade in dieser Aufdosierungsphase kommt es häufig zu Bauchschmerzen und Übelkeit, vor allem nach üppigen Mahlzeiten. Die Europäische Arzneimittelagentur EMA prüft aktuell Berichte, nach denen Anwender Suizidgedanken hatten.
Zur Gewichtsreduktion sind die Inkretin-Mimetika ab einem BMI von 30 zugelassen, bei BMI 27, wenn Begleiterkrankungen vorliegen. Sie sollen begleitend zu einer Ernährungs-, Verhaltens- und Bewegungstherapie genutzt werden. Nur so können die Adipositas-Betroffenen sich einen Lebensstil erarbeiten, den sie dauerhaft beibehalten. Andernfalls droht nach dem Absetzen der Präparate eine erneute Zunahme. Da zur Anwendung in Schwangerschaft und Stillzeit Daten fehlen, sollen die Abnehmspritzen in dieser Zeit nicht angewendet werden.
Ist Abnehmen nur etwas für Reiche?
Während die GKV die Kosten für die Präparate bei Typ-2-Diabetes übernimmt, entfallen die gut 300 Euro im Monat bei Adipositas auf die Betroffenen. Denn obwohl Adipositas als Krankheit anerkannt ist, stuft der Gemeinsame Bundesausschuss diese Präparate als Livestyle-Arzneimittel ein. Das heißt, die gesetzlichen Krankenversicherungen übernehmen die Kosten nicht.
Eine Sprecherin des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) erklärte im Februar gegenüber DIE PTA IN DER APOTHEKE: „Das BMG verfolgt die Entwicklung, Zulassung und Studiensituation neuer medikamentöser Optionen wie die GLP-1-Agonisten zur Gewichtsabnahme sehr aufmerksam. Dabei sind für das BMG von besonderem Interesse aussagekräftige Studiendaten, die langfristige Auswirkungen der neuen Optionen auf insbesondere kardiovaskuläre Endpunkte zeigen, aber auch Daten zur Langzeit-Sicherheit der Wirkstoffe bei der Verwendung als Abmagerungsmittel. […] Die Bewertung dieser Daten bleibt abzuwarten und ist Voraussetzung für gegebenenfalls gesetzgeberische Schritte.“
Bariatrische Chirurgie: Die Magen-OP
Eine weitere Option ist die Adipositaschirurgie, die sogenannten bariatrischen Operationen. Etwa 20000 solcher Eingriffe erfolgen bundesweit jährlich, die Krankenkasse trägt die Kosten. Je nach Methode wird der Magen chirurgisch so verändert, dass er dauerhaft oder reversibel weniger Volumen umfasst. Portionen sind dann anfangs so klein wie beispielsweise zwei Sushi-Röllchen.
Der Effekt beruht allerdings nicht allein auf der Magenverkleinerung und der geringeren Nahrungsaufnahme. Adipositasforscher Dr. Ulrich Dischinger meint: „Tatsächlich ist die bariatrische Operation eine Art neuroendokrine Intervention.“ Der Hypothalamus muss auf GLP-1 und das Peptid YY ansprechen, damit der Eingriff Erfolg hat – das ist nicht bei allen Adipösen der Fall.
- 93 Prozent der Patienten verlieren durch eine bariatrische Operation nach zehn Jahren mindestens 10 Prozent,
- 70 Prozent wenigstens 20 Prozent
- und 40 Prozent mindestens 30 Prozent an Gewicht.
Doch auch bei einem bariatrischen Eingriff ist eine Ernährungs-, Verhaltens- und Bewegungstherapie nötig. Der Magen kann zwar nur noch kleine Mengen aufnehmen, wer aber über den Tag verteilt ständig kleine Portionen hochkalorischer Nahrung isst, kann diese Barriere umgehen.
Außerdem weitet sich der Magen mit der Zeit auch wieder. Dass es nach dem ersten Gewichtsverlust wieder zu einer leichten Zunahme kommt, ist üblich. Auf welchem Niveau das Gewicht dann verbleibt, ist stark abhängig von der therapeutischen Anbindung und Nachsorge.
Eine bariatrische Operation bedeutet oft auch Verdauungsbeschwerden, weil die Nahrung unverdauter in den Darm gerät. Vitamine müssen lebenslang supplementiert werden, mit Spezialpräparaten, die auf wenig Platz hohe Dosierungen enthalten und nicht retardiert sein dürfen. Da zur Vitamin-B12-Aufnahme der Intrinsic Factor aus dem Magen nötig ist, der nun nicht mehr ausreichend gebildet wird, erhalten die Operierten meist Injektionen im Abstand von drei bis sechs Monaten.
Aussichten
Abnehmen ist schwer, nicht wieder zunehmen noch schwerer. Von denjenigen, die fünf Prozent ihres Körpergewichts abnahmen, wiegen 80 Prozent nach drei bis fünf Jahren mindestens so viel wie zuvor. Je mehr Diäten jemand hinter sich hat, umso schlechter sind die Erfolgsaussichten. Wenn es darum geht, Normalgewicht zu erreichen, sind die Chancen noch geringer: Das gelingt einer von 124 Frauen mit Übergewicht und einer von 677 mit Adipositas. Bei den Männern sind es noch weniger.
Je mehr Diäten jemand hinter sich hat, umso schlechter sind die Erfolgsaussichten.
Das sogenannte Weight Cycling, also Zu- und Abnehmen im Wechsel, erhöht die Mortalität um rund 50 Prozent. Außerdem steigt das Risiko für Herz-Kreislauf-Probleme, Bluthochdruck, Typ-2-Diabetes und das metabolische Syndrom; es erhöht die Stress- und Entzündungsmarker. Weight Cycling führt also zu ähnlichen Problemen wie Adipositas selbst. Außerdem verlangsamt das Zu- und Abnehmen den Stoffwechsel und es kann zur sogenannten sarkopenen Adipositas führen, bei der Muskelmasse verloren geht, während die Fettmasse zunimmt.
Weight Cycling führt also zu ähnlichen Problemen wie Adipositas selbst. Außerdem verlangsamt das Zu- und Abnehmen den Stoffwechsel.
Um einem Jo-Jo-Effekt entgegenzuwirken, sollten Abnehmversuche immer therapeutisch begleitet und nachversorgt werden, und zwar von Spezialisten, nicht vom Hausarzt. Tatsächlich gibt es keine Evidenz dafür, dass ein forcierter Gewichtsverlust der Gesundheit nutzt. Es ist ein gesundheitsbewusstes Verhalten, das gesundheitliche Vorteile bringt. Dazu gehören auch eine ausgewogene Ernährung und Bewegung – und das ist auch mit hohem Gewicht möglich.
Die Autorinnen versichern, dass keine Interessenkonflikte im Sinne von finanziellen oder persönlichen Beziehungen zu Dritten bestehen, die von den Inhalten dieser Fortbildung positiv oder negativ betroffen sein könnten.