Adipositas
PTA-Fortbildung

Über Gewicht: Adipositas verstehen und behandeln

Übergewicht macht krank. Adipositas wäre leicht zu besiegen, würden die Betroffenen sich nur zusammenreißen. Sie müssen einfach mehr Energie verbrauchen als zu sich nehmen. Stimmt das? Warum leicht sein gar nicht so leicht ist.

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Essstörungen können also sowohl die Ursache für als auch die Folge von Übergewicht sein. Wenn wir die Effekte von Adipositas auf den Körper betrachten, ist es sinnvoll zu unterscheiden, ob tatsächlich das Gewicht oder Ernährungsweise und Bewegungsverhalten die Auslöser sind. Die Überschneidung ist zwar groß, doch wie wir wissen, ist fast die Hälfte der übergewichtigen Frauen, ein gutes Drittel der übergewichtigen Männer und 15 bis 30 Prozent der adipösen Menschen stoffwechselgesund.

Fett und seine Folgen

Den anderen droht ein metabolisches Syndrom: So nennt man die Kombination aus

  • Bluthochdruck,
  • Fettstoffwechselstörung (Hypertriglyceridämie und niedriges HDL-Cholesterol)
  • und einer Insulinresistenz oder Typ-2-Diabetes.
  • Hohe Harnsäurewerte oder Gicht und Probleme der Blutgefäße wie Gerinnungsstörungen können das metabolische Syndrom begleiten.

Das Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko steigt. Bewegung und Ernährung (insbesondere die Mengen an Fett, Alkohol und Salz) spielen bei der Entstehung eine große Rolle, aber auch Schlafmangel und Stress sowie Erkrankungen der Leber, Nieren oder Schilddrüse.

Einen großen Anteil am metabolischen Syndrom hat das viszerale Fett. Das Bauchfett umhüllt die inneren Organe. Seine Zellen, die Adipozyten, sind hormonell aktiv und produzieren bestimmte Proteine, die Adipokine. Zu diesen mehreren hundert Signalstoffen zählen beispielsweise

  • Leptin,
  • Adiponektin,
  • Interleukin-6 (IL-6)
  • und der Tumornekrosefaktor-α (TNF-α).

Leptin ist an der Steuerung von Hunger und Sättigung beteiligt, außerdem an der nichtalkoholischen Fettleber und der Insulinresistenz. Niedrige Adiponektin-Spiegel stehen in Verbindung mit der koronaren Herzkrankheit, hohe Spiegel mit einer Leberzirrhose. IL-6 und TNF-α spielen eine Rolle in der unspezifischen Immunabwehr und vermitteln Entzündungen. Auch Veränderungen am Gehirn können auf Adipokine zurückgehen.

Adipokine haben einen großen Anteil am Adipositas-assoziierten Risiko für Typ-2-Diabetes, Fettleber, Arteriosklerose, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und bestimmte Krebserkrankungen.

Für 13 Krebserkrankungen ist der Zusammenhang mit Adipositas erwiesen, bei weiteren Krebsarten vermutet man ihn. Wie sehr das Gewicht das Krebsrisiko erhöht, hängt von der Krebsart, dem Geschlecht und dem Alter ab. Über welche biologischen Mechanismen genau das Gewicht mit dem Krebsrisiko zusammenhängt, ist noch nicht klar. Die Adipokine scheinen jedoch eine wichtige Rolle zu spielen.

Gewicht drückt auf Oberkörper

Unabhängig von den hormonell ausgelösten Folgen von Adipositas belastet auch das zusätzliche Gewicht den Körper. Umfasst der Oberkörper mehr Fettgewebe, drückt dieses auf Organe und Atemwege, besonders im Liegen. Ein hohes Gewicht kann deshalb Sodbrennen und Atembeschwerden begünstigen. Infektionskrankheiten, Covid-19 etwa, nehmen häufiger einen schweren Verlauf.

Auch setzt der Atem nachts bei Menschen mit Adipositas überproportional oft aus. Durch diese Schlafapnoe fehlt dem Körper Erholungs- und Regenerationszeit. Das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt bei den Betroffenen; ihr Körper steht permanent unter Stress. Außerdem sind sie permanent übermüdet, was die Unfallgefahr erhöht. Das Risiko für Depressionen steigt. Ein Teufelskreis: Stress, Schlafmangel und Depressionen sind wiederum Faktoren, die Adipositas begünstigen.

Gelenke tragen mehr Gewicht

Der Haltungs- und Bewegungsapparat hat bei einem hohen Körpergewicht wortwörtlich eine große Last zu tragen. Vor allem an der Wirbelsäule, der Hüfte und den Knien zeigt sich oft vorzeitig Verschleiß. Die entzündungsvermittelnden Adipokine verschlimmern Arthrosen zusätzlich zur mechanischen Belastung. Fehlstellungen der unteren Extremitäten wie X- und O-Beine oder Plattfüße kommen bei Adipositas häufiger vor.

Wenn das Umfeld krank macht

Menschen mit Adipositas machen aufgrund ihres Körpers, ihres Aussehens, mehr negative Erfahrungen als schlanke oder dünne Menschen. Dass Menschen mit Normgewicht weniger dieser belastenden Momente erleben, nennt man Thin Privilege, also Dünn-Privileg. Kein Thin Privilege zu haben, bedeutet zum Beispiel,

  • dass Fremde im Supermarkt ungefragt die Lebensmittelauswahl kommentieren – ob nun abfällig oder um zu helfen.
  • als unsportlich, undiszipliniert und ungebildet vorverurteilt zu werden.
  • ungefragt Diät- und Sporttipps zu erhalten.
  • Kleidung nicht in Geschäften shoppen zu können, sondern nur online und mit kleiner Auswahl.
  • im Flugzeug einen zweiten Sitz buchen zu müssen und nach einer Gurtverlängerung zu fragen.
  • vor Restaurants oder Theaterbesuchen abzuwägen, ob man in die Stühle passt.
  • Auch offene Beleidigungen gehören dazu.

Diskriminierung, also eine Benachteiligung aufgrund bestimmter Merkmale, ist hierzulande verboten. Zu diesen Merkmalen zählen laut Allgemeinem Gleichbehandlungsgesetz Rasse, ethnische Herkunft, Geschlecht, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexuelle Identität. Das Körpergewicht oder Aussehen wird nicht aufgeführt. Das spiegelt sich im Berufsleben wider: Übergewichtige und adipöse Menschen werden seltener zu Bewerbungsgesprächen eingeladen, seltener eingestellt und verdienen weniger als dünne Kollegen – Letzteres gilt besonders für Frauen. Stehen sie in der Öffentlichkeit, wird aufgrund ihrer Statur ihre Expertise hinterfragt. Grünen-Cochefin Ricarda Lang schreibt:

„Egal, wozu ich mich äußere – Lohngleichheit, Kinderarmut oder Kohlekraft: Ich bekomme als Antwort Kommentare zu meinem Äußeren.“

Das löst einerseits chronischen Stress aus und damit eine Cortisolausschüttung, andererseits belastet es psychisch und triggert Depressionen und Essstörungen. Professor Peter Muenning von der Columbia University kommt zu dem Schluss: „Adipöse Menschen erleben ein hohes Maß an Stress, und dieser Stress stellt eine plausible Erklärung für einen Teil der Beziehung zwischen BMI und Gesundheit dar.“

Dass dicke Menschen krank werden, liegt also zumindest teilweise auch daran, wie man mit ihnen aufgrund ihres Körpers umgeht. Scham und Diskriminierung beeinträchtigen die körperliche und psychische Gesundheit.

Studien bestätigen, dass dicken Menschen zum Abnehmen geraten wird, während Normgewichtigen Bluttests, CT-Aufnahmen oder Physiotherapie angeordnet wird – bei den gleichen Beschwerden. Adipöse dürfen an vielen klinischen Studien nicht teilnehmen, was dazu führt, dass Antibiotika oder Chemotherapeutika bei ihnen unterdosiert werden. Eine Analyse von 300 Obduktionen legte offen, dass bei adipösen Menschen 1,65-mal häufiger Krankheiten übersehen wurden als bei Normalgewichtigen. Zu diesen Krankheiten zählten auch Lungenkrebs, chronisch-entzündliche Darmerkrankungen oder Herzleiden.

Eine Analyse von 300 Obduktionen legte offen, dass bei adipösen Menschen 1,65-mal häufiger Krankheiten übersehen wurden als bei Normalgewichtigen.

Kommt ein Dicker zum Arzt …

Doch auch bei Ärztinnen und Ärzten erfahren Menschen mit hohem Gewicht Diskriminierung. „Dicke können mit einer Axt im Schädel kommen, und der Arzt wird sagen, nehmen Sie ab. Dadurch ziehen sich Betroffene auch immer weiter zurück und gehen ungern zum Arzt oder zur Ärztin, weil sie wissen, was da auf sie zukommt“, erklärte Internistin Bianca Itariu, Expertin für Adipositas und Stoffwechselstörungen, einmal im Interview mit der österreichischen Zeitung Der Standard.

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