Adipositas
PTA-Fortbildung

Über Gewicht: Adipositas verstehen und behandeln

Übergewicht macht krank. Adipositas wäre leicht zu besiegen, würden die Betroffenen sich nur zusammenreißen. Sie müssen einfach mehr Energie verbrauchen als zu sich nehmen. Stimmt das? Warum leicht sein gar nicht so leicht ist.

28 Minuten

Wenn Übergewicht und Adipositas mit so vielen negativen Aspekten verbunden sind, wie kommt es dann, dass jemand überhaupt zunimmt? Müsste er es nicht besser wissen und nur so viel essen, wie er benötigt, um seinen Energiebedarf zu decken? Viele Betroffene schaffen das nicht – oder sie schaffen es und verlieren trotzdem kein Gewicht.

Die Historikerin Maren Möhring ist auf Ernährung und Gesundheit spezialisiert. Sie erklärt, dass Essen zwar in erster Linie als Nährstoff verstanden wird, also als Input für den Körper. Diese naturwissenschaftliche Sicht ist aber einseitig, weil sie die sozialen und symbolischen Dimensionen des Essens vernachlässigt. Außerdem suggeriert das ein kausales Verhältnis zwischen Ernährungspraxis und Gesundheit beziehungsweise Körpergewicht. „Die Beziehungen zwischen aufgenommener Nahrung und Körperfett, aber auch zwischen Körperfett und Gesundheit sind weit komplexer als es eine einfache Input-Output-Rechnung erfassen kann“, erklärt die Expertin. Denn der Körper hat Regelmechanismen für sein Gewicht und den Stoffwechsel, die komplexer als thermodynamische Gesetze sind.

„Die Beziehungen zwischen aufgenommener Nahrung und Körperfett, aber auch zwischen Körperfett und Gesundheit sind weit komplexer als es eine einfache Input-Output-Rechnung erfassen kann.“

Stress, Schlaf und Stoffwechsel

Einer der Gründe dafür ist Stress. Stress ist ein wichtiges Alarmsignal des Körpers, er stellt seine verschiedenen Organsysteme darauf ein, mehr zu leisten, um einer Gefahr zu entgehen. Dazu bildet die Nebenniere die Katecholamine Adrenalin und Noradrenalin. Auf Dauer verliert Stress diese Funktion aber. Chronischer Stress entsteht zum Beispiel durch Existenzangst, Überforderung und Traumata.

Bei einem hohen Stresspegel benötigt das Gehirn mehr Energie, was zu einem stärkeren Verlangen nach Nahrung führt. Allerdings wird bei Dauerstress statt der Katecholamine vermehrt Cortisol ausgeschüttet. Cortisol senkt den Energieumsatz des Körpers, um mit Reserven länger haushalten zu können. In Verbindung mit dem Heißhunger des Gehirns begünstigt das eine übermäßige Energiezufuhr und damit die Einlagerung von Fett. Doch nicht jeder neigt bei chronischem Stress zu Adipositas.

Menschen mit chronischem Schlafmangel, aber auch Schichtarbeiter haben ein erhöhtes Risiko für Adipositas. Auch hierfür ist vermutlich eine erhöhte Cortisolausschüttung die Ursache: Sie bremst die Glykolyse in den Muskelzellen, die so weniger Glucose verbrauchen. Diese verbleibt aber nicht im Blut, sondern wird von Fettzellen verwertet. Der Körper baut Muskelzellen ab und Fettreserven auf.

Bereits fünf Nächte mit nur vier Stunden Schlaf führten in einer Studie zur Gewichtszunahme. Langfristig werden bestimmte Gene an- beziehungsweise ausgeschaltet; diesen Vorgang nennt man Epigenetik. Umweltfaktoren haben demnach Einfluss auf das Erbgut. Der Körper markiert dazu bestimmte DNA-Sequenzen des Erbguts mit Methylgruppen. Das heißt, Schlafmangel schreibt einen katabolen Stoffwechsel ins Erbgut hinein, die Gene begünstigen dann eine Gewichtszunahme.

Gene und Gewicht

Die Kinder übergewichtiger Eltern haben ein um 80 Prozent höheres Risiko, selbst Übergewicht zu entwickeln. Haben die Eltern Adipositas, werden ihre Kinder sogar 300 Prozent wahrscheinlicher übergewichtig, neuere Zahlen reden sogar von 600 Prozent, wenn beide Elternteile adipös sind. Das liegt zum einen an der familiären Ess- und Bewegungskultur.

Aber auch erbliche Faktoren spielen eine Rolle. Schließlich sind unsere Gene die Baupläne für Proteine; also für Enzyme und Rezeptoren und damit für Signalwege und Stoffwechselvorgänge. Dass dickmachende Varianten sich durchsetzen, ist evolutionär bedingt: Fettreserven sicherten in Zeiten des Nahrungsmangels das Überleben.

"Zu etwa 60 Prozent sind die Erbanlagen dafür verantwortlich, dass jemand Übergewicht entwickelt."

Das Sättigungshormon Leptin und sein Rezeptor etwa können Defekte aufweisen. Das Melanocortin-4-Rezeptor-Gen reguliert den Appetit. Bei einer Mutation an diesem Gen wiegt ein 1,80 Meter großer Mann im Durchschnitt 13 Kilogramm mehr als andere; eine 1,70 Meter große Frau sogar 27 Kilogramm.  Das FTO-Gen (Fat mass and obesity-associated gene) wiederum reguliert, ob wir Fett einlagern oder verbrennen.

Weißes, beiges und braunes Fett
Der Mensch verfügt über drei Arten von Fettzellen: Weiße Fettzellen speichern Fett, braune verbrennen es und beige Fettzellen können beides. Bestimmte Varianten des FTO-Gens lassen die beigen Zellen Fett nur speichern und nicht verbrennen.

Insgesamt sind rund 2,1 Millionen Varianten an 100 Genabschnitten bekannt, die das Körpergewicht beeinflussen. "Zu etwa 60 Prozent sind die Erbanlagen dafür verantwortlich, dass jemand Übergewicht entwickelt", ordnet Medizinforscher Professor Dr. Johannes Hebebrand ein. Einige Zwillingsstudien legen sogar 70 Prozent nahe.

Hebebrand findet, selbst Therapeuten nehmen zu selten zur Kenntnis, dass stark Übergewichtige wegen ihrer genetischen Veranlagung zum Teil kaum langfristig abnehmen können. Die Folge sind frustrierende Hungerkuren, die das Gewicht oft sogar noch steigern. Die Anthropologin Professorin Dr. Annemarie Mol formuliert das so: „Ich kann viele Äpfel essen, aber ich werde niemals beherrschen, welche ihrer Zucker, Mineralstoffe, Vitamine und Ballaststoffe absorbiert werden und welche ich ausscheide.“

Das Erbgut kann zudem, wie beim Schlafmangel auch, durch Umweltfaktoren verändert werden. Für die Methylierung von DNA-Abschnitten ist zum Beispiel relevant, wie viel Betain, Methionin oder Folsäure jemand zu sich nimmt. Auch solche epigenetischen Effekte sind vererbbar: Kindern ist in die Gene eingeschrieben, wie sich ihre Eltern zum Zeitpunkt vor der Schwangerschaft ernähren.

„Ich kann viele Äpfel essen, aber ich werde niemals beherrschen, welche ihrer Zucker, Mineralstoffe, Vitamine und Ballaststoffe absorbiert werden und welche ich ausscheide.“

Babybauch: Zunahme durch die Schwangerschaft

Die Schwangerschaft selbst lässt indes viele Frauen zunehmen. Eine gewisse Zunahme ist dabei normal.

  • Nicht nur das Kind selbst, die Plazenta, das Fruchtwasser und die wachsende Gebärmutter haben eine Masse, die sich auf der Waage der werdenden Mutter zeigt.
  • Ihr Blutvolumen vergrößert sich zudem, um das Kind mitversorgen zu können.
  • Hormonell bedingt lagern Schwangere zudem Wasser und Fett ein.

Abhängig vom Körpergewicht vor der Schwangerschaft gelten 12 bis 18 Kilogramm (bei Untergewicht) bis 6 Kilogramm Zunahme (bei Adipositas) als unbedenklich – der BMI ist hierbei wieder ein grober Richtwert, der tatsächliche gesundheitliche Zustand der Frau sollte unbedingt beachtet werden.

Unmittelbar nach der Geburt ist die Mutter wieder fünf bis sieben Kilogramm leichter. In den folgenden Wochen sinkt das Blutvolumen wieder. Gewicht, das nach zwei bis drei Monaten noch vorhanden ist, beruht größtenteils auf Fettgewebe. Stillen erhöht einerseits den Energiebedarf, kann andererseits aber auch Heißhunger auslösen. Schlafmangel spielt mit einem Neugeborenen an der Seite ebenfalls eine Rolle.

Nur etwa 20 Prozent der Frauen erlangen in den drei Monaten nach der Geburt ihr altes Körpergewicht zurück, als „normal“ gelten drei bis sechs Monate. Bei einem großen Teil dauert der Prozess hingegen mindestens ein Jahr. Etwa ein Viertel aller Mütter wiegt auch ein Jahr nach der Geburt mindestens fünf Kilogramm mehr als zuvor. Bei vielen Müttern bleibt das Körpergewicht nach einer Geburt dauerhaft erhöht, insbesondere, wenn sie mehr als ein Kind bekommen. Wie sehr eine Frau während der Schwangerschaft zu- und wie leicht sie wieder abnimmt, ist unter anderem abhängig vom Stoffwechsel und der Veranlagung.

Hungriges Hirn

Wer eine genetische Disposition für ein hohes Gewicht hat, muss bei einem Abnehmversuch also eiserne Disziplin aufbringen und es tolerieren, wenn das Gewicht trotz aller Maßnahmen über längere Zeit stagniert. Gerade diese Disziplin ist jedoch ein Knackpunkt, weiß Neurobiologe Stephan Guyenet: „Was die meisten Menschen übersehen, ist, dass wir es nur bedingt kontrollieren können, wie viel wir essen und wie viel wir uns bewegen.
Die meisten Prozesse, die unser Essverhalten beeinflussen, passieren unbewusst. Wir entscheiden uns nicht dafür, hungrig zu sein oder Appetit auf etwas Bestimmtes zu haben.“ Der präfrontale Kortex, mit dem wir Entscheidungen treffen, ist anpassungsfähig. Im Stammhirn hingegen, das Herzschlag, Atmung, Verdauung und auch das Sättigungsgefühl steuert, sind die Verbindungen fest verdrahtet.

Doch nicht nur, dass der Mensch seinen Hunger kaum steuern kann, bei Menschen mit Adipositas ist das Gehirn im Vergleich zu Gesunden verändert. Sie haben außerdem weniger Rezeptoren für körpereigene Opioide und Cannabinoide, belohnende Botenstoffe. Vermutlich essen sie mehr, um eine Belohnungsreaktion zu erzeugen, die ausreicht, um das Essen zu beenden.

Zudem besitzt das Zentralnervensystem Insulinrezeptoren, die am Sättigungsgefühl beteiligt sind. Bei Adipösen ist diese Regulation gestört. Lange dachte man, dass das hohe Gewicht die Insulinwirkung herabsetze (und somit Typ-2-Diabetes fördere). Neuere Erkenntnisse legen aber nahe, dass – genau andersherum – eine gestörte Insulinwirkung eine Zunahme fördert.

Dickdarm und Dicksein

Fest steht, dass uns rund 1000 Bakterienarten besiedeln. Die Gesamtheit ihres Genoms übersteigt das menschliche um das Hundertfache. Ihr Stoffwechsel und die dabei entstehenden Metaboliten beeinflussen die menschliche Gesundheit. Versuche an Mäusen zeigten, dass das Darmmikrobiom Einfluss auf das Körpergewicht, den Blutzucker und Entzündungsparameter hat.

Eine wichtige Rolle spielen dabei die kurzkettigen Fettsäuren, die bei der bakteriellen Fermentation von Ballaststoffen aus der Nahrung entstehen. Es ist allerdings schwierig, zuverlässige Aussagen über einzelne Bakterienstämme zu treffen. Denn die Zusammensetzung des Darmmikrobioms unterscheidet sich von Person zu Person, hängt von Umweltfaktoren ab und viele Bakterien lassen sich nicht außerhalb des Darms untersuchen.

Eine vielfältige Besiedelung scheint mit einem geringeren Adipositasrisiko verbunden zu sein. Wir wissen, dass die Art der Entbindung (vaginal oder per Kaiserschnitt), die Ernährung (Stillen oder Säuglingsnahrung) und Antibiotikagaben schon das frühkindliche Mikrobiom beeinflussen. Inwiefern diese Faktoren das spätere Körpergewicht beeinflussen, ist unklar.

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