TAMOXIFEN BLEIBT KNAPP
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Seit Jahrzehnten beobachtet Prof. Wolf-Dieter Ludwig, Vorstandsvorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ), den Arzneimittelmarkt und findet so manches kritikwürdig. So auch kürzlich bei einer Veranstaltung der Deutschen Krebsgesellschaft e.V. in Berlin, bei der es um Liefer- und Versorgungsengpässe ging.
„Es kann nicht sein, dass wir Milliarden ausgeben für Medikamente, deren Stellenwert unklar ist, und andererseits Medikamente wie Tamoxifen nicht mehr verfügbar sind“, befand Ludwig. Tamoxifen sei „essenziell für Frauen mit Mammakarzinom und metastasierendem Mammakarzinom“. Von Lieferengpässen seit Januar seien rund 120 000 Frauen betroffen. Die Situation hätte viele „sehr belastet“. Doch die Sorgen, ob das überlebensnotwendige Medikament weiter zuverlässig in der Apotheke vorhanden ist, sind für diese Frauen noch nicht vorbei.
Ein paar Ausnahmegenehmigungen reichen nicht „Es gibt aktuell in der Tat sehr große Probleme“, sagte der Vorsitzende des Landesapothekerverbands Niedersachsen, Berend Groeneveld, Ende März dieses Jahres. Dabei hatten das Bundesgesundheitsministerium und das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) zu diesem Zeitpunkt längst begonnen, über den Engpass zu informieren und mit gesetzlichen Maßnahmen gegenzusteuern.
So erlaubt das Arzneimittelgesetz (AMG) dann beispielsweise Importe, die sonst nicht zulässig sind. Die Landesbehörden genehmigten Lieferungen von mehr als fünf Millionen Tabletten (Stärke: 20 mg). „Spätestens im Mai“ sollten weitere 20 Millionen Tabletten folgen. Ende April ordnete das BfArM an, die Importware vorrangig abzugeben: „Sonst ist davon auszugehen, dass es in der zweiten Jahreshälfte erneut zu einem gravierenden Versorgungsengpass kommt.“
Der Beirat für Liefer- und Versorgungsengpässe beim BfArM appellierte schon Anfang Februar an Ärzte und Apotheker, statt der Großpackungen (N3) auf kleine Größen mit 30 Tabletten umzusteigen. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen empfahl seinen Mitgliedern, diese oder „Arzneimittel mit einer geringeren Stärke in der Zeit des Engpasses ohne Retaxationen den Apotheken zu erstatten“.
Einsparung durch harte Preisdeckelung bei Generika geht auf die Dauer schief.
Was ist die Ursache? Einige Fachleute glauben, dass sich zahlreiche Frauen zu Beginn der Pandemie einen Vorrat angelegt haben. Bork Bretthauer, Geschäftsführer des Verbands „Pro Generika“, nannte bei der Veranstaltung der Krebsgesellschaft eine andere Ursache: viel zu niedrige Preise für Tamoxifen. Hexal zum Beispiel erhält derzeit nur knapp neun Euro für sein Mittel – für eine dreimonatige Versorgung.
Früher, so Bretthauer, stellten knapp zwei Dutzend Generikaunternehmen Tamoxifen her. Anfang des Jahres waren für Deutschland nur noch vier große übrig: Hexal Sandoz, Ratiopharm, Aliud Pharma, Aristo Pharma. Sie schulterten fast die ganze Versorgung. Mittlerweile ist Aristo Pharma wegen zu niedriger Preise ausgestiegen. Bretthauer kritisierte, dass es auf Dauer eben schief gehe, wenn harte Preisdeckelungen bei Generika Einsparungen erwirtschaften sollten, damit an anderer Stelle Geld für neue, teure Medikamente da ist.
Darüber habe die Politik zu lange hinweggeschaut. Weil es für sie unwirtschaftlich war, hätten einige Zulieferer die Produktion eingestellt. Neue seien aus demselben Grund schwer zu finden. Und ihre Zulassung zum Herstellungsprozess dauert normalerweise ein, zwei Jahre. „Das kann man Brustkrebspatientinnen in der Apotheke schlecht erklären“, sagte Bretthauer. Auch verlangt die Herstellung von Tamoxifen spezielle Produktionsbedingungen sowie Vorlauf.
So dürfen aus gesundheitlichen Gründen nur Männer in die Produktionsräume. Es muss eine separate Klimaanlage geben. Das Abwasser aus der Tamoxifenproduktion muss verbrannt werden. Und: „Die Produktion wird auf ein Jahr im Voraus geplant.“
Schnell ein paar Millionen Tabletten zusätzlich produzieren, das funktioniert nicht. Zwar hat sich jetzt ein Unternehmen für eine vorgezogene Produktion entschieden. Doch dafür stellt es ein anderes versorgungsrelevantes Medikament nun später her. Auch dieser Weg ist also nicht risikolos. Made in Europe ist bei Tamoxifen immerhin nicht das Problem. Der wesentliche Teil der Wirkstoffe kommt aus Europa, nicht aus Asien.
Immer teurer, immer knapper
Im Jahr 2011 lag der durchschnittliche Packungspreis für ein Arzneimittel, das in den vorangegangenen 36 Monaten auf den Markt gekommen ist, bei 902 Euro. Im August 2021 waren es 51.189 Euro. Libmeldy® mit einem Listenpreis von 2,9 Millionen Euro ist das teuerste Medikament. Es wird zur Behandlung einer seltenen Erbkrankheit bei Kindern eingesetzt.
2020 entfielen 43 Prozent des Umsatzes mit Arzneimitteln zu Lasten der Gesetzlichen Krankenversicherung schon auf Arzneimittel mit Preisen von mehr als 1000 Euro. Sie machen aber nur 1,1 Prozent aller 684 Millionen Verordnungen aus. Das BfArM informiert fortlaufend über Maßnahmen gegen Tamoxifen-Lieferengpässe (www.bfarm.de).
In der EU haben sich die Lieferengpässe von Medikamenten zwischen 2000 und 2018 verzwanzigfacht. Auch auf europäischer Ebene wurden Maßnahmen gegen Engpässe bei Medikamenten ergriffen. Aber: 80 Prozent der Arzneimittelwirkstoffe werden in China und Indien hergestellt. Von dort kommen 50 Prozent der weltweiten Produktion von Ibuprofen, 60 Prozent bei Paracetamol, 90 Prozent bei Penicillin.
Am System muss sich etwas ändern Unter dem Strich haben die Verantwortlichen die Versorgungsprobleme derzeit durch Importe und Ausgabebeschränkungen im Griff. Aber Bretthauer hält sie nicht für dauerhaft gelöst. Selbst dann nicht, wenn die Auflagen für Hersteller noch strenger würden. Noch größere Sicherheitsbestände in den Lagern? Höhere Strafzahlungen bei Nichtlieferung?
„Die hätten das Problem bei Tamoxifen noch verstärkt.“ Welcher Hersteller würde für ein größeres Lager zahlen, wenn schon die bisherige Produktion knapp kalkuliert ist? Der Pro-Generika-Geschäftsführer forderte, dass die Politik das System ändern müsse und attraktive Preise zulassen, damit Hersteller in der Versorgung bleiben. AkdÄ-Experte Ludwig ist unter anderem für üppigere Bevorratung und strengere Verpflichtungen zur Lieferfähigkeit.
Aber auch er befand bei Tamoxifen: „Ein Medikament mit einem so hohen Stellenwert verdient einen reellen Preis.“ Bei Redaktionsschluss/Mitte Mai wurde bekannt, dass fast alle Hersteller die Produktion von Paracetamol-Fiebersaft eingestellt haben. Nur einer sei noch übrig, so Pro Generika.
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2022 ab Seite 76.
Sabine Rieser, freie Journalistin