Schmerzforschung
„LEIDEN IST MEHR ALS NUR DAS REINE SCHMERZEREIGNIS“
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Im klinischen Alltag wird in erster Linie nach der Intensität des Schmerzes gefragt. Doch die Piktogramme sind auf eine Art ungenau, weil sie nicht erfassen, wie stark der Patient wirklich unter den Schmerzen leidet – denn zwischen Schmerz und Leid besteht ein Unterschied.
Beispielsweise wird ein starker Kopfschmerz eher ertragen, wenn er auf das Glas zu viel am Vorabend zurückzuführen ist, als wenn ein Hirntumor die Ursache ist. Die Therapie der Schmerzen kann dann also auch nur ungenau sein.
Prof. Jonas Tesarz, Oberarzt an der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Psychosomatik am Universitätsklinikum Heidelberg, weiß: „Die Schmerzintensität kann nicht eins zu eins in Leidensintensität übersetzt werden. Es hängt davon ab, wie sehr sich der Patient bedroht fühlt in seiner Identität.
Fühlt er sich schuldig, wertet er den Schmerz als Strafe, hat er oder sie Angst? All das beeinflusst, wie stark man unter den Schmerzen leidet, und dieses Wissen müssen wir in die Behandlung mit einbeziehen.“
Mal gilt Schmerz als Schande, mal als Sühne
In einer Metastudie haben die Wissenschaftler um Prof. Tesarz 379 Publikationen, die schmerzbezogene Leiden beschreiben, sowohl digital als auch manuell durchsucht und ausgewertet. Die Forschenden haben hierbei Schwachstellen früherer Definitionen zu schmerzbezogenem Leiden identifiziert.
„In manchen Gesellschaften gilt Schmerz als Schande, in anderen als Sühne.“
So wurden etwa manche Bevölkerungsgruppen nicht berücksichtigt, die sich nicht durch Sprache verständlich machen können, etwa Säuglinge oder demente Personen. Auch kulturelle, spirituelle und kognitive Dimensionen wurden nach Ansicht der Wissenschaftler*innen nur unzureichend berücksichtigt. „In manchen Gesellschaften gilt Schmerz als Schande, in anderen als Sühne. Oder stellen Sie sich vor, Sie erleiden Schmerzen aufgrund einer schweren Kriegsverletzung: Je nachdem, auf welcher Seite Sie gekämpft haben, werden Sie sich entweder als Held oder als Verlierer fühlen. Auch das beeinflusst unser schmerzbedingtes Leiden.“
Vom mechanischen zum nervösen Prozess
Tesarz hat mit seinen Mitarbeitenden nun eine neue Systematik erstellt. Diese berücksichtigt soziale, körperliche, persönliche, spirituelle, existenzielle, kulturelle, kognitive und affektive Faktoren. „Vor 50 Jahren galt Schmerz als ein vorwiegend mechanischer Prozess, bei dem ein Gewebsschaden zu einem Schmerzerleben führt. Vor etwa zehn Jahren veränderte sich diese Sicht, und Schmerz wird nun als ein primär nervöser Prozess wahrgenommen, bei dem unser Gehirn die Reize aus unserem Körper interpretiert“, sagt Tesarz.
„Unsere neue Definition geht über den reinen Schmerz hinaus und beschreibt Leiden als eine zutiefst negative, komplexe und dynamische Erfahrung, die als Reaktion auf eine wahrgenommene Bedrohung der Integrität des Individuums als Selbst und seiner Identität als Person entsteht. Leiden hängt eng mit dem Schmerz selbst zusammen, besitzt aber noch viel mehr Facetten als nur das reine Schmerzereignis.“
Quelle: Informationsdienst Wissenschaft