Medizingeschichten
RUDOLF VIRCHOW, BEGRÜNDER DER MODERNEN PATHOLOGIE
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Sie hatten nur ein einziges Kind, was für die damaligen Zeiten ungewöhnlich war: Der Kaufmann Carl Christian Virchow aus dem pommerschen Schivelbein und seine Frau Johanna Maria tauften den im Herbst des Jahres 1821 geborenen Jungen Rudolf Ludwig Carl. Häufig kränklich, startete er erst als Heranwachsender durch: Abitur 1839, dann ein Studium an der Militärärztlichen Akademie in Berlin. 1843 Promotion „Über den Rheumatismus, insbesondere die Hornhaut“. 1846 legt Rudolf Virchow sein Staatsexamen ab.
Doch Virchow interessierte sich nicht nur für Medizin. Er war auch ein Schwärmer und Rebell, hielt mit seinen politischen Ansichten nicht hinterm Berg; er beschimpfte die „feudale Aristokratie“, fordert demokratische Verhältnisse. Auslöser war eine Typhusepidemie in Oberschlesien, zu der Virchow als behördlich bestellter Arzt geschickt wurde. Er sah Hunger und Elend und eine große, aus Kraftlosigkeit gespeiste Lethargie der Bevölkerung. Die Krankheit konnte sich unter den Armen ungehindert ausbreiten. Zeitlebens wird dies Virchows sozialpolitische Ansichten prägen: Typhus, Skorbut und Tuberkulose nannte der 27-Jährige „künstliche Krankheiten“, er forderte den „sozialen Wandel“, ging für seine politischen Überzeugungen buchstäblich auf die Barrikaden des deutschen Vormärz. 1848 missfiel dies den Behörden so sehr, dass er seine Stellung und die dazugehörige Dienstwohnung an der Charité verlor.
Professor an der Universität Würzburg
Diese Chance ließ die Universität Würzburg sich nicht entgehen. Sofort hatte Virchow ein neues Betätigungsfeld: das des Professors an der Pathologischen Anatomie. Er beschäftigte sich mit der später weltberühmten „Zellularpathologie“, heiratete und zeugte mit seiner Frau Rose Mayer vier seiner sechs Kinder. Sein „Röschen“ war dem Ehemann zufolge „sehr schweigsam“ und hörte „sich hilfreich in ihn hinein: Und ich, ich habe sie liebgewonnen“, sagte er über sie. In Würzburg erlebte Virchow seine produktivsten Jahre. Hier reifte seine Lehre von der Zelle als ontologische Form allen Lebens. Das Menschliche gründe sich nicht bloß, wie seit der Antike gelehrt, auf dem Verhältnis der vier Körpersäfte Blut, Schleim, Gelb- und Schwarzgalle, sagte er. Heißt: Virchow machte endlich Schluss mit dem immer noch vorherrschenden Glauben an die Viersäftelehre, die noch auf Hippokrates zurückging. Er schrieb "Die „Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“ – ein medizinischer Bestseller, denn bisher war man der Ansicht, Zellen entstünden aus einem unförmigen Urschleim. Doch „Zellen entstehen aus Zellen“ servierte Virchow seinen Studenten den leicht zu merkenden Kernsatz. Deshalb lehnte er auch den „Quatsch“ vom einstigen Schüler Robert Koch ab: Bakterien? Gibt es nicht. Auch die Hände brauche man sich nicht zu waschen, wie es der Kollege Ignaz Semmelweis forderte. Nicht in allem war der berühmte Wissenschaftler also frei von den Irrtümern seiner Zeit. Er entdeckte jedoch Bedeutendes auf dem Gebiet der Bluterkrankungen – die Leukämie – und zeichnete präzise die bis heute beständigen Ursachen und Entstehungen von Thrombosen nach.
Wissenschaftler, Arzt und Sozialreformer
Sechs Jahre später holte ihn die Berliner Charité zurück und er bekommt sein eigenes Institut.
Und auch hier erwies es sich, dass Virchow seine Herkunft aus einfachen Verhältnissen nicht vergessen hatte. Er war nicht nur ein originärer Wissenschaftler und Arzt, sondern auch ein Sozialreformer. Er setzte durch, das die grottenschlechte Kanalisation von Berlin modernisiert wurde; fortan dienten außerhalb der Riesenstadt gelegene Rieselfelder als Kläranlage. Virchow war als Mitglied des Reichstages auch verantwortlich für die nach jeder Schlachtung vorzunehmende behördliche Fleischbeschau; der Befall der Bevölkerung mit Parasiten wurde somit ausgeschlossen. Schließlich sei die Medizin doch, so stellte Virchow fest, immer auch eine „sociale Wissenschaft“.
Durch sein großes Herz und der Hingabe an die Belange der „kleinen Leute“ erwarb sich Virchow große Verehrung in der Bevölkerung. Er plädierte für die Errichtung von öffentlichen Krankenhäusern und den Ausbau der staatlichen Gesundheitsfürsorge. Er entwickelte dabei einen solchen Enthusiasmus, dass dies dem konservativen Reichstagsabgeordneten Otto von Bismarck missfiel. Der forderte ihn nach einer erregten Budget-Debatte zum Duell. Glücklicherweise griffen hier besonnene Menschen ein und verhinderten dies – sonst hätte die Medizingeschichte einen anderen Verlauf genommen.
Dokumentation war zentraler Punkt seiner Arbeit
Auch als alter Mann stürzte sich der Wissenschaftler immer noch auf die verschiedensten Bereiche: Heinz Schliemann, der Entdecker Trojas, war sein Freund. Er begleitete ihn bei den Grabungen und redete so lange auf ihn ein, dass der seine trojanische Sammlung schließlich der Stadt Berlin überließ. Er gründete eine Anthropologische Gesellschaft und eine Zeitschrift für Ethnologie. Krankheiten und körperliche Anomalien wollte Virchow systematisch dokumentieren – das 1899 eröffnete Pathologische Museum versammelte zur Jahrhundertwende bereits 23000 Objekte. Daneben gründete Virchow auch noch das Märkische- und das Völkerkundemuseum in Berlin, dessen Exponate heute das Humboldt-Forum beherbergt. Der Pathologe veranlasste 1886 eine gesamtdeutsche Großuntersuchung: 6 760 000 Schulkinder wurden nach Haar-, Haut-, Augenfarbe rubriziert; die Ergebnisse stützen Virchows These von der „allgemeinen Mischkultur“: Jede Nationalität sei „von zusammengesetztem Charakter“ – Virchow glaubte nicht daran, dass Menschenrassen per se existieren.
Der mit Ehrungen, Preisen und Medaillen überhäufte Wissenschaftler gönnte sich nie einen Tag Pause. Sein Lebenselixier war die Arbeit und das (selbst gewählte) Thema seines Abituraufsatzes schien Programm: „Ein Leben voller Arbeit und Mühe ist keine Last, sondern eine Wohltat“. Rudolf Virchow war auf dem Weg zu einem Vortrag, als er in der Eile aus einer noch fahrenden Straßenbahn sprang. Der 80-Jährige blieb mit dem Fuß hängen und erlitt einen Oberschenkelhalsbruch. Monatelang laborierte er daran und erholte sich nicht mehr: Am 5. September 1902 starb der Wissenschaftler, Anthropologe und Sozialreformer an den Folgen des Unfalls.
Wer sich das Werk des Wissenschaftlers genauer anschauen möchte, dem sei die Ausstellung im Charité-Container (Berlin-Mitte, Invalidenstraße 86) empfohlen: „Der Zellenstaat. Virchow und die Charité der Zukunft“. Und die umfangreiche Sammlung des Medizinhistorischen Museums der Charité enthält ebenfalls noch immer von Virchow angelegte Präparate.
https://www.hu-berlin.de/de/ueberblick/geschichte/rektoren/vircho
https://www.pathologie.uni-wuerzburg.de/geschichte/virchow-in-wuerzburg/persoenliches/ehefrau/