viele gehisste EU-Flaggen vor dem EU-Parlament© Jorisvo / iStock / Getty Images Plus
Die nächste große Krise bestreiten die EU-Mitgliedsstaaten gemeinsam - von Anfang an.

Gesundheit auf Europäisch

FIT FÜR DIE NÄCHSTE PANDEMIE?

Die Verordnung zu schweren grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren ist der dritte und entscheidende Baustein der EU-Gesundheitsunion. Das Gesetz, das am 4. Oktober 2022 im EU-Parlament beschlossen wurde, basiert auf den Erfahrungen der COVID-19-Pandemie und soll Europa besser auf künftige Gesundheitskrisen vorbereiten.

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Die Verhandlungen waren zäh. Sehr zäh. Wie fast immer in der Europäischen Union, wenn Kompetenzen von den Mitgliedstaaten zu EU-Institutionen verlagert werden sollen. Vor allem, wenn es um Themen geht, die eigentlich komplett in die Zuständigkeit der Nationalstaaten fallen.

Gesundheitsvorsorge ist so ein Thema. In diesem Politikbereich hat die EU kein Mandat – und damit nichts zu melden. Eigentlich. Denn das ändert sich gerade.

Corona machte den Weg frei

Auslöser dafür ist das Corona-Virus. Das schert sich auch nicht um nationalstaatliche Befindlichkeiten, sondern infiziert seit mehr als zwei Jahren in regelmäßigen Wellen die gesamte Bevölkerung.

Zu Beginn hatten die europäischen Staatenlenker noch versucht, das Problem allein in den Griff zu bekommen – jeder für sich. Grenzen dicht. Masken und Schutzkleidung nur für zahlungskräftige Kundschaft verfügbar. Hektische Suche nach Arzneimitteln, die helfen könnten. Schnell wurde klar, dass das nicht funktioniert. Damit war die EU wieder im Boot.

Und das funktionierte dann – für einige Akteure unerwartet – erstaunlich gut. Nicht sofort und nicht immer reibungslos. Aber gemeinsam holte man festsitzende EU-Bürger aus allen Ecken der Welt nach Hause. Ein pandemiespezifisches Grenzmanagement sorgte dafür, dass Arzneimittel und medizinisches Personal dort hinkommen konnten, wo sie gebraucht wurden. Ein Corona-Krisenstab koordinierte EU-weit Gegenmaßnahmen in Medizin, Wirtschaft und Mobilität. Gemeinsam beschaffte man Masken und Beatmungsgeräte, entsendete medizinisches Fachpersonal in die am härtesten betroffenen Regionen, beschloss Finanzhilfen, entwickelte eine Strategie zur Entwicklung, Herstellung und Verteilung von Impfstoffen.

Krisenerfahrung als Chance für die Zukunft

Während die EU zunehmend selbstbewusst eine führende Rolle in der Pandemiebekämpfung einnimmt, wird den handelnden Akteuren auch klar, wie schlecht die einzelnen Mitgliedstaaten, aber auch die Union als Ganzes, auf diese Krise vorbereitet sind.

Um das zu ändern, legt die EU-Kommission am 11. November 2020 ein Strategiepapier vor: Sie will eine europäische Gesundheitsunion etablieren. Dazu bringt sie gleichzeitig drei Gesetzesvorschläge auf den Weg. Zwei davon erweitern die Mandate von EU-Agenturen:  das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und die Europäische Arzneimittelagentur (EMA). Das dritte Gesetz, die Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren, soll dafür sorgen, dass die Mitgliedstaaten der Union künftig besser auf Gesundheitskrisen vorbereitet sind.

Die Mandatsausweitung der EMA wurde am 19. Januar 2022 im Europaparlament beschlossen. Die Verordnungen zum ECDC und zu den grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren brauchen deutlich länger. Sie wurden am 4. Oktober 2022 verabschiedet – nach zähen Verhandlungen zwischen Kommission, Parlament und dem Rat, der die Regierungen der 27 Mitgliedstaaten repräsentiert.

Auf einen Blick: Die EU-Gesundheitsunion
In diesem Jahr (2022) verabschiedete das Europaparlament drei Gesetze, die den Grundstein für eine Europäische Gesundheitsunion legen:
● eine stärkere Rolle für die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA): angenommen am 25. Januar 2022, in Kraft seit 1. März 2022
● die Erweiterung des Mandats des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC): angenommen am 4. Oktober 2022, in Kraft voraussichtlich ab November 2022
● Verordnung zu grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren: angenommen am 4. Oktober 2022, in Kraft voraussichtlich ab November 2022
Ziel ist es, die nationalen Gesundheitssysteme zu stärken und einen Binnenmarkt für Gesundheitsleistungen zu schaffen.
Weitere Element der Gesundheitsunion sind bislang:
● Behörde für Krisenvorsorge und -Reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA): Gründung am 16. September 2021
● Europäischer Plan zur Krebsbekämpfung: Entschließung des Europaparlaments vom 12. Februar 2022
● EU-Arzneimittelstrategie: Strategie der EU-Kommission vom 25. November 2020
● Europäischer Gesundheitsdatenraum (EHDS): Verordnungsvorschlag vom 23. Februar 2022 – Gesetzgebungsprozess noch nicht abgeschlossen.

 

Krisenreaktion: EU-Kommission übernimmt Führung

Vor allem bei der Verordnung zu schweren grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren wird hart um jedes Detail gekämpft. Denn sie regelt grundsätzlich, wie sich die Mitgliedstaaten auf Gesundheitskrisen vorbereiten müssen, wie sie in einer Krise kooperieren und wie dann Kompetenzen und Zuständigkeiten verteilt sind.

Das Gesetz erteilt der EU-Kommission ein klares Mandat für Krisenfälle: Sie ist es, die künftig einen gesundheitlichen Notfall auf EU-Ebene formell feststellt und damit eine ganze Kaskade von Gegenmaßnahmen auslöst. Dazu gehört zum Beispiel die gemeinsame Beschaffung von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Aber auch die Aktivierung von unterstützenden Institutionen wie ECDC und Gesundheitssicherheitsausschuss. Außerdem kann die Kommission einen Gesundheitskrisenstab und eine Gesundheits-Taskforce einsetzen, die dafür sorgen, dass die EU im Krisenfall schnell und koordiniert handelt.

Prävention: besser planen und koordinieren

Weit umfangreicher und tiefgreifender als die Regelungen zur Krisenreaktion sind die Bestimmungen zur Vorbereitung auf mögliche Gesundheitskrisen. Hier greift das neue Gesetz am stärksten in nationale Kompetenzen ein. Um präventive Maßnahmen besser planen und koordinieren zu können, verpflichtet das Gesetz die EU-Kommission, einen Plan für Gesundheitskrisen und Pandemien aufzustellen.

Der Präventions-, Vorsorge- und Reaktionsplan der Union soll Mitgliedstaaten und EU-Institutionen zu einer schnellen und engen Zusammenarbeit verpflichten. Dazu gehören unter anderem:

  • eine schnelle gegenseitige Information über Gesundheitsgefahren, deren Risiken und den möglichen Gegenmaßnahmen,
  • Mechanismen zur Überwachung von Arzneimittelengpässen,
  • ein EU-weiter Überblick über verfügbaren Ressourcen (zum Beispiel RescEU-Lagerbestände),
  • eine Kartierung der Produktionskapazitäten für kritische medizinische Produkte.

Parallel dazu müssen die nationalen Präventions-, Vorsorge- und Reaktionspläne der Mitgliedstaaten aktualisiert werden. Das soll sicherstellen, dass sie untereinander kompatibel sind und damit die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Gesundheitsbereich ermöglichen.

Der entscheidende Faktor: Kommunikation!

Alle Krisenpläne müssen Regeln zum Informationsaustausch enthalten: zur Frühwarnung zum Beispiel, oder zum Risikomanagement. Vor allem aber sollen die Mitgliedstaaten bewährte Verfahren und Kapazitätsinformationen weitergeben – etwa über die Verfügbarkeit von spezialisierten Behandlungen und Intensivpflege in benachbarten Regionen. Zudem soll es grenzüberschreitende Schulungen für Gesundheitspersonal und Verfahren für die Überführung von Patienten geben.

Ob die Pläne effektiv und effizient funktionieren, kann die EU-Kommission mit regelmäßigen Stresstests überprüfen und, falls nötig, Aktualisierungen und Verbesserungen einfordern.

Klare Regeln für gemeinsame Beschaffung

Die EU-weite Verfügbarkeit von Arzneimitteln und Medizinprodukten war einer der größten Schwachpunkte vor allem zu Beginn der Corona-Krise. Gleichzeitig machte man bei der Entwicklung und Beschaffung der COVID-19-Impfstoffe die Erfahrung, dass plötzlich Fortschritte möglich wurden, die keiner der Mitgliedstaaten allein hätte erreichen können.

Vor diesem Hintergrund sollte der Rahmen für eine gemeinsame Beschaffung von medizinischen Gegenmaßnahmen gestärkt werden. Das Gesetz zu grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren sieht deshalb klare Verfahren dafür vor. Koordiniert wird das Ganze von der EU-Kommission. Die Teilnahme an gemeinsamen Beschaffungs- und Verhandlungsaktivitäten ist freiwillig. Allerdings kann die Kommission künftig parallele Aktivitäten der teilnehmenden Länder für die betreffenden Güter einschränken. Ursprünglich war geplant, dies ganz zu verbieten – eine der Regelungen, die es nicht durch den Verhandlungsprozess zwischen Parlament, Kommission und Rat geschafft haben.

Kompetenzgerangel: Mitgliedstaaten sichern ihren Einfluss

Auch um die Rolle des Gesundheitssicherheitsausschusses wurde hart verhandelt. Der Ausschuss soll die Maßnahmen von Kommission und Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Verordnung koordinieren sowie Leitlinien zu Vorsorge- und Kontrollmaßnahmen genehmigen. Im Vergleich zum ursprünglich vorgeschlagenen Gesetzestext sorgten die Verhandlungen insbesondere für eine stärkere Beteiligung des Parlaments, der zentralen EU-Agenturen (zum Beispiel ECDC) sowie unabhängiger Experten aus dem Bereich der öffentlichen Gesundheit (zum Beispiel Angehörige der Gesundheitsberufe).

Außerdem sicherte sich der Rat ein stärkeres Gewicht: Der Ausschuss muss Entscheidungen mit einer Dreiviertelmehrheit der Mitglieder treffen – statt der ursprünglich angestrebten einfachen Mehrheit.

Dass sich Gesetzestexte während des parlamentarischen Verfahrens ändern, ist ein normaler demokratischer Prozess – auch in der EU. Dass die so zustande kommenden Gesetze auch die Zustimmung von Bürgerinnen und Bürgern finden, darauf können Politiker und Parlamentarier nicht setzen. Mit Blick auf eine Kompetenzverschiebung zugunsten der EU bei grenzüberschreitenden Gesundheitskrisen ist das aber so: "Diese Gesetzgebung ist eine klare Antwort auf die 74 Prozent der europäischen Bürger, die eine größere europäische Kompetenz im Krisenmanagement wünschen“, zititiert Véronique Trillet-Lenoir, Berichterstatterin für den Verordnungsvorschlag zu grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren, eine aktuelle Eurobarometer-Umfrage. Und sie geht noch darüber hinaus, wenn sie ankündigt, dass Im Rahmen des Projekts Gesundheitsunion auch über die Überarbeitung der europäischen Verträge diskutiert werde. Das lässt hoffen, dass die EU künftig nicht nur auf Gesundheitskrisen besser vorbereitet ist, sondern auch auf die demokratischen Herausforderungen der Zukunft.

Quellen:
EU-Parlament: Angenommener Text der Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren (Legislative Entschließung vom 4. Oktober 2022)
EU-Kommission: Vorschlag für eine Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren (ursprünglicher Verordnungsvorschlag vom 11. November 2020)
EU-Kommission, Webseiten: EU-Gesundheitsunion, Gesundheitswesen: Strategische Prioritäten der Legislaturperiode 2019-2024
EU-Parlament: Pressemeldung zur Einigung zwischen Parlament, Rat und Kommission über die Verordnung zu schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren
EU-Rat: Pressemeldung zur vorläufigen Einigung über schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren

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