Bücher, von denen man spricht
BREATH
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Verblüffend, nicht? Ich muss zugeben, ich hab ihn auch nie richtig beachtet. Dabei begleitet er mich schon so lange, der Atem – seit meiner Geburt. James Nestor, der Autor des Buches „Breath – Atem“ ging das auch so. Er machte sich wenig Gedanken über diesen alltäglichen, aber lebensspendenden Akt. Der Journalist merkte nur irgendwann: Ihm ging es gesundheitlich nicht gut. Neben dem beruflichen Stress waren da dauernd diese Nebenhöhlenvereiterungen und noch schlimmer: Lungenentzündungen.
Als er die dritte hinter sich hatte, riet ihm jemand einen Sudarshan-Kriya-Kurs zu besuchen. Nestor wusste so wenig wie Sie oder ich, was das war. Mit allerhand schrägen Typen saß er in einem Raum in New York, hörte indische Musik. Atmete ein, atmete aus. Zunächst spürte er nichts und hielt das Ganze, ehrlich gesagt, für ziemlichen Humbug. Die anderen auch. Bis dann etwas passierte – „und zwar übergangslos“–, das… – ach, lesen Sie selbst.
Lebensveränderndes Erlebnis Indem er sich einfach nur auf eine langsame Sauerstoffzufuhr durch die Nase konzentrierte, schlief er in der folgenden Nacht so gut wie schon lange nicht mehr. Das Thema ließ ihn nicht mehr los, und James Nestor wäre nicht Journalist der New York Times, wenn er sich nicht in die Recherche gestürzt hätte. Dass dieses Ergründen des Themas zehn Jahre dauern würde und in die Praxen von Pulmologen, Orthopäden, zu Yogalehrern, mehr oder weniger verrückten Wissenschaftlern und sogar in die Pariser Katakomben führen würde, das hätte er wohl selber nicht gedacht.
Für ein wissenschaftliches Experiment lässt er sich sogar die Nase zustopfen, sodass er zur Mundatmung gezwungen ist („es war grauenhaft“), er lässt sich vermessen und analysieren und trägt auf 334 Seiten akribisch jeden Wissensschnipsel über „die vergessene Kunst des Atmens“, wie er es nennt, zusammen: „Die letzten zehn Jahre haben mich gelehrt, dass die 13,5 Kilo Luft, die jeden Tag die Lungen durchströmen, und die 800 Gramm Sauerstoff, die der Körper jeden Tag verbraucht, ebenso wichtig sind wie Ernährung und Bewegung.“ Er lernt Atemtechniken, bei denen einem schon beim Lesen schwindelig wird, und ergründet das Geheimnis, warum tibetischen Mönchen in ihren ungeheizten Klostern beim Meditieren nicht kalt wird.
Nix zu kauen Dass wir die schlechtesten Atmer im Tierreich sind, ist leider wahr. Unser Schädel hat sich durch die nicht so tolle Nahrung, die wir uns mittlerweile zuführen, zum Negativen verändert. Der Atemstrom hat keinen Platz mehr, unsere Mundhöhle wird immer kleiner, und sie hat ja auch nichts Richtiges mehr zu tun bei all dem weichen Zeug, das wir in uns reinschaufeln: „95 Prozent der heutigen, vorverarbeiteten Nahrungsmittel sind weich“, sagt Nestor. Die Anatomie dazu studiert er anhand der Gebeine unter dem Boden von Paris. Und er schaut sich unter Anthropologen um.
Naturvölker haben zwar keinen Zahnarzt, aber auch kein Karies und überhaupt ziemlich gerade Zähne. Halten wir die Reihenfolge Mund zu – durch die Nase atmen – bewusst Ausatmen – gut Kauen – ein, geht es uns sogleich besser. Wir erfahren darüber hinaus Erkenntnisvolles: Wussten Sie, dass das Innere der Nase erigieren kann? Dass mehr Kohlendioxid im Blut die Sauerstoffaufnahme erleichtert? Und dass Panikattacken etwas mit Atemregulation zu tun haben, man sie somit nach entsprechender Übung steuern kann?
Und dass, wer auch immer das rituelle Gebet der Katholiken erfunden hat, ganz genau wusste, was er tat, denn: Der wirksamste Atemrhythmus tritt auf, wenn sowohl die Länge der Atemphasen wie die Zahl der Atemzüge pro Minute einen seltsamen Gleichklang erreichen: „5,5 Sekunden Einatmen, gefolgt von 5,5 Sekunden Ausatmen ergeben fast 5,5 Atemzüge pro Minute, dasselbe Atemmuster wie im Rosenkranzgebet.“ In vielerlei Hinsicht habe kohärentes Atmen dieselbe Heilwirkung wie Meditation, sagt der Autor: „Wenn man die nicht mag, oder wie Yoga, wenn man seinen Hintern nicht vom Sofa hochkriegt. Es bietet die Heilkraft des Gebetes.“ Zumindest, wenn man 5,5mal pro Minute Luft holt.
Richtig atmen kann heilen „Breath“ ist kein klassischer Ratgeber, was auch daran liegt, dass der Autor ziemlich begeistert über seine Erkenntnisse ist und kaum analysiert. Aber es ist mit einer solchen Verve geschrieben, dass man Lust bekommt, mit seinem eigenen Atem zu experimentieren. „Viele moderne Krankheiten – Asthma, Angstzustände, Aufmerksamkeitsdefizit, Hyperaktivität, Schuppenflechte und andere – können gemildert oder sogar überwunden werden, wenn man nur lernt, anders ein- und auszuatmen“, meint Nestor. Denn 90 Prozent der Menschen, auch er, würden falsch atmen und dieser Fehler verursache eine lange Liste chronischer Krankheiten oder verschlimmere sie. Tja, und dass falsches Atmen (mit offenem Mund) plus Übergewicht zu nächtlichem Schnarchen und Schlafapnoe führen kann, ist leider auch wahr. Zwecks Verifizierung verklebt sich der Autor dazu nachts den Mund.
Einfach mal versuchen Schön und schwungvoll geschrieben ist dieses Buch, nah am Sujet und sehr plastisch, eben „eine begeisternde wissenschaftliche, kulturelle und spirituelle Geschichte“ sagt die Bestsellerautorin Elisabeth Gilbert nach der Lektüre. Das Fazit: Unsere Atmung kann unseren Gesundheitszustand positiv beeinflussen, uns helfen abzunehmen und sogar unser Leben verlängern. Wer richtig atmet, ist selbstbewusster und kann sich besser konzentrieren. Wie sehr wir auch auf Ernährung achten, wie viel Sport wir treiben, wie widerstandsfähig unsere Gene sein mögen, wir schlank, jung und klug wir sind: Das alles hilft nicht so richtig, solange wir nicht richtig atmen. Versuchen wir’s also. Mein Tipp: Nicht zu dogmatisch vorgehen. Atmen Sie einfach, wie es Ihnen gut tut und achten Sie darauf, was Ihr Körper Ihnen sagt.
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 12/2021 ab Seite 112.
Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin
James Nestor Breath – Atem
Neues Wissen um die vergessene Kunst des Atmens Hardcover Piper, 336 Seiten, 22 Euro ISBN: 978-0-593-42021-8