Aussicht aus dem Autofenster© Ferenc Cegledi / iStock / Getty Images

Bücher, von denen man spricht

ZWISCHEN DEN WELTEN

Akute myeloische Leukämie – so lautet die Diagnose, die Suleika Jaouad mit 23 Jahren erhält. Wie sie sich durch die Krankheit kämpft, wie sie zurück ins Leben findet und schließlich zu einem Roadtrip aufbricht, davon handelt ihr Buch.

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Sie hat gerade ihr Examen in den USA abgeschlossen und einen Job als Anwaltsgehilfin in Paris ergattert. Sie hat ihren Traumtypen kennengelernt, der sich ins Flugzeug setzt und zu ihr in die kuschelige Maisonette-Wohnung an der Seine zieht. Zusammen besteigen sie jeden Abend das wacklige Ikea-Hochbett und sind unendlich glücklich. Wenn sie nur nicht immer so müde wäre. Wenn nur nicht ihr Appetit immer mehr nachlassen und sie immer dünner würde. Wenn nur nicht ein Infekt den anderen jagen würde. Schließlich bringt ihr Freund Will sie ins Krankenhaus. Der Arzt empfängt sie mit dem Satz „Sie sehen scheiße aus“, was nur erträglich klingt, weil er es auf Französisch sagt. Daheim in den USA bekommt sie die Diagnose. „Leu-kee-miie“, denkt sie. „Das hörte sich an wie eine exotische Blume, wunderschön und giftig.“ Der Arzt kontert: „Das ist ein aggressiver Krebs, der das Blut und das Knochenmark angreift. Wir müssen schnell handeln.“

Der Rote Teufel Ja, und dann gerät sie in die Mühlen der Therapie, erhält den ersten Chemo-Zyklus. „Vor dem Kleinen hier müssen Sie sich in Acht nehmen“, warnt die Schwester sie und hält einen Beutel mit kristallroter Flüssigkeit hoch, „Manche bezeichnen ihn als den Roten Teufel, weil die Nebenwirkungen ziemlich fies sein können.“ Suleika lebt nun „Zwischen den Welten“. Sie ist Teil der Kranken-Community, einer geschlossenen Gesellschaft, denn Leukämie-Kranke haben das Schicksal, gerade in den entscheidenden Therapie-Phasen auf Außenkontakte verzichten zu müssen, da sie vor einer Knochenmarkstransplantation praktisch kein Immunsystem mehr haben. Sie sagt: „Die stillen Stunden nach Einbruch der Dunkelheit, die hohlen Klänge des schweigenden Leidens sind es, die am beängstigendsten sind.“

Wer dieses Buch liest, braucht starke Nerven. Denn seine Besonderheit liegt darin, dass es alles so schildert, wie es tatsächlich ist, von einer, die es wirklich erlebt hat. Das ist schwer auszuhalten, besonders, wenn man einen persönlichen Bezug zu dieser Krankheit hat, sei es durch Angehörige, Freunde oder eigenes Erleben. Und es ist andererseits leicht zu ertragen, denn es ist ein wunderbares Stück Literatur. Über jeder Schilderung, immer autobiografisch und schonungslos ehrlich, schwebt die zarte Wortmächtigkeit der Autorin, ein treffsicheres, intuitives Spiel mit der Sprache, die die Dinge beim Namen nennt und gleichzeitig tiefer liegende Dimensionen sichtbar macht.

So farbig und zupackend und dann wieder einfühlsam und weise, besonders für einen so jungen Menschen: „Ich wollte unbedingt eine Sprache für die rätselhaften Vorgänge in meinen Knochen finden, für die endlosen Monate im Bett, in denen ich in einen Zustand des einsamen Nachdenkens gezwungen wurde, für all die Demütigungen und Flirts mit dem Tod, für die Erfahrung, fortlaufend andere Patienten sterben zu sehen, wie auch Teile in mir.“ Suleika beginnt inmitten der Chemotherapien zu schreiben, eröffnet einen Blog – wie man das macht, schaut sie sich vorher bei YouTube an. „Ich war mir ziemlich sicher, dass meine Leserschaft nur aus Will und meinen Eltern, womöglich noch meiner Großmutter bestehen würde.“

Da hat sie sich geirrt: Der Erfolg ist überwältigend. Sie bekommt jede Menge elektronische Post, und sogar einen Brief von einem Häftling, der bald hingerichtet werden soll: „Ich weiß, dass wir uns in unterschiedlichen Situationen befinden“, schreibt er, „aber im Schatten von uns beiden lauert der Tod.“

Der nicht erwartete Erfolg Nicht lange, dann wird eine Redakteurin der New York Times auf sie aufmerksam. Sie telefonieren miteinander und dann beginnt eine Art Märchen: Die Dreiundzwanzigjährige erhält eine wöchentliche Kolumne in der größten Tageszeitung der USA, ein Umstand, den sie selbst nicht ganz fassen kann. Sie schreibt wie im Rausch die ersten dreizehn Stücke, sozusagen auf Vorrat, denn sie steht kurz vor der Transplantation: Ihr Bruder hat sein Knochenmark gespendet. Traurig, intensiv, schattenreich, brutal ehrlich geht es weiter.

Als sie diese Zeit überstanden hat – die Überlebensquote beträgt bei dieser Art Behandlung nur 35 Prozent - geschieht etwas, mit dem sie nicht gerechnet hat. Nicht nur die Beziehung zu ihrem Freund Will geht in die Brüche (dem treuesten Menschen seit Lancelot), sondern sie erlebt auch Entscheidendes am Tag nach der letzten Chemotherapie. Sie stellt fest: „Es war die Außenwelt, das Reich der Gesunden, die mir fremd geworden war und mir Angst einjagte.“

Der Roadtrip Suleika stellt einen Plan auf: Sie möchte die Menschen, die ihr geschrieben haben während ihrer langen Leidenszeit, einmal besuchen. Sie schickt eine Rundmail, und überraschend viele antworten und laden sie ein. Der kleine weiße Terrier Oscar, den sie sich noch zusammen mit Will gekauft hat, kommt mit in den alten Subaru, den sie sich von einem Freund geliehen hat. Oscar verbellt todesmutig einen Braunbär, wird um ein Haar erschossen, als er Hühner jagt, und betätigt sich ansonsten als Herzens- und Eisbrecher, denn er sieht aus wie Idefix. Suleika fährt fünfzehntausend Meilen durch dreiunddreißig US-Bundesstaaten.

Im Versuch, dem Erlebten Sinnhaftigkeit zu geben, erkennt sie: „Wir alle können nie etwas genau wissen. Das Leben ist ein Vorstoß ins Ungewisse.“ – und eben kein kontrolliertes Experiment. Die junge Frau, die mittlerweile 33 ist, hat es in den Journalisten-Olymp geschafft und einen Emmy für ihre Artikel bekommen. Sie hält nun Vorträge in den gesamten USA und war Mitglied in Barack Obamas President’s Cancer Panel. Sogar vor den United Nations hat sie schon einmal gesprochen. Wenn sie gerade mal nicht mit ihrem sonnengelben VW-Bus Baujahr 1972 unterwegs ist, lebt sie in Brooklyn. Immer dabei hat sie ein Gedicht von Max, einem Leidensgenossen, der es nicht geschafft hat. Der schickte ihr kurz vor seinem Tod ein Gedicht: „Der Himmel / ist eigentlich nur ein Krankenhaus für Seelen. / Wenn ich dort ankomme / dann wird es nicht kompliziert. / Im Himmel bin ich nicht so krank.“

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 01/2022 ab Seite 90.

Alexandra Regner, PTA und Medizinjournalistin

Suleika Jaouad Zwischen den Welten
Was mich die Begegnung mit dem Tod über das Leben lehrte Klappenbroschur Goldmann, 480 Seiten, 16 Euro ISBN: 978- 3-442-31444-7

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