Eine behandschuhte Hand hält ein Proberöhrchen, das mit H1N1 beschriftet ist.© jarun011 / iStock / Getty Images Plus
H1N1, ein Subtyp der Influenza-A, löste die Spanische Grippe aus. Forscher entdeckten einen Zusammenhang zur aktuellen saisonalen Grippe.

Influenzaviren

GEHEN HEUTIGE GRIPPEVIREN AUF DIE SPANISCHE GRIPPE ZURÜCK?

Einem Team des Robert Koch-Instituts ist es gelungen, das Genom von Spanische-Grippe-Viren zu entschlüsseln. Dahinter steckte Detektivarbeit. Anders als bislang angenommen könnten heutige H1N1-Viren demnach von der Spanischen Grippe abstammen.

Seite 1/1 4 Minuten

Seite 1/1 4 Minuten

Ein bisschen Geschichte: Die Spanische Grippe, eine Influenza-Pandemie, die gar nicht aus Spanien, sondern wohl aus den USA kam, wütete zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 bis etwa 1920. Vermutlich kostete sie 50 bis 100 Millionen Menschen weltweit das Leben, und das bei einer Gesamtbevölkerung von damals rund zwei Milliarden Menschen. Die erste Welle der Spanischen Grippe erreichte ihren Höhepunkt im Herbst 1918, die zweite Welle im Frühjahr 1919.

Dass der Pandemie ein Virus zugrunde lag, konnte erst 1930 nachgewiesen werden. 1990 rekonstruierten Forschende dann aus Gewebeproben, dass es sich um den Influenza-A-Subtyp H1N1 handelte. Da genetisches Material aus dem frühen 20. Jahrhundert selten ist und oft nur unvollständig entschlüsselt werden kann, waren jedoch viele Fragen zum Genom offen – Mutationen und Subtypen, wie wir sie von SARS-CoV-2 kennen, ließen sich nicht bestimmen. Ein Team um Livia Patrono vom Robert Koch-Institut (RKI) wartet nun mit neuen Daten auf.

H1N1 in 100 Jahre alten Lungen

Die Wissenschaftler*innen untersuchten in Formalin konservierte Lungen aus der Zeit zwischen 1900 und 1931 aus pathologischen Sammlungen zweier Museen. In dreien dieser Proben fand Patronos Team sowohl Krankheitsanzeichen als auch die RNA von Influenza-A-Viren: „Alle stammen aus Proben von 1918 und an den Lungen ist erkennbar, dass eine Bronchopneumonie vorlag.“ Zwei Proben wurden im Juni 1918 in Berlin gesammelt und lieferten Teilstücke des Virusgenoms. Die dritte Probe (München 1918) konnten die Wissenschaftler*innen schließlich vollständig sequenzieren.

Vom Vogel auf den Menschen

Das Team verglich die Genome der Proben miteinander sowie mit den Proben aus New York und Alaska, die schon früher untersucht worden waren. Das Erstaunliche: Das Erbgut der beiden Berliner Proben war einander äußerst ähnlich. Das Münchner Genom trug mehrere Variationen, die Proben aus den USA zeigten weitere Mutationen.

Dass die Berliner Proben aus der Früh-, die anderen aus der Hochzeit der Pandemie stammten, zeigt, welche Mutationen dem Virus einen Selektionsvorteil boten, wie es also virulenter wurde: Die Variationen „stehen mit der Resistenz gegen die antivirale Reaktion des Wirts in Verbindung“, erklären die Forscher. Während H1N1-Virenstämme vor der Pandemie noch typische Vogelgrippe-Strukturen trugen, hatten sie 1918/19 Anhänge, die auch heute noch in Menschen-typischen H1N1-Stämmen zu finden sind. Die Mutationen könnten das Virus also besser an den Menschen als Wirt angepasst haben.

Die Erbgutproben zeigen, dass H1N1 durch Mutationen der Immunreaktion des Menschen entgangen ist und sich so besser an den neuen Wirt anpassen konnte.

Entstehungstheorie der Grippeviren auf den Kopf gestellt

Die sogenannte molekulare Uhr modelliert, wie das Erbgut einzelner Arten von gemeinsamen Vorfahren abhängt. Das RKI-Team zog sie zu Rate: „Unsere Analysen legen nahe, dass sich die heute zirkulierenden saisonalen H1N1-Viren aus dem damaligen Pandemie-Stamm entwickelt haben.“ Bislang ging man davon aus, dass die heutigen saisonalen Grippeviren entstanden, indem die einzelnen Stämme Erbgutabschnitte austauschen – dem widerspricht die Entdeckung.

Heute grassierende H1N1-Stämme könnten von der Spanischen Grippe abstammen.

Allerdings schränken die Wissenschaftler*innen ein: Die Ergebnisse seien als vorläufig zu betrachten – die Stichprobengröße von nur drei vollständigen und zwei unvollständigen Genomen sei gering.

Wie steht es um die Grippe 2022?

Das Infektionsgeschehen in diesem Jahr ist ungewöhnlich. Insgesamt sind die Influenza-Fallzahlen niedriger als in den Vorjahren und auch in den fünf Jahren vor der Corona-Pandemie. Seit Mitte Mai erfüllen sie jedoch die Kriterien für den Start einer Grippewelle, wie aus dem Bericht für die 18. Meldewoche der Arbeitsgemeinschaft Influenza hervorgeht.

Bislang überwiegt der Influenza-A-Subtyp H3N2, mit viel Abstand gefolgt von Influenza-A(H1N1)pdm09 und Influenza-B der Victoria-Linie.

Seit dem Ende der Osterferien breiten sich Influenzaviren bei Kindern aus, während die Fallzahlen bei Erwachsenen und für schwere, akute Atemwegserkrankungen insgesamt rückläufig sind. Für die 18. Woche wurden 1613 bestätigte Grippefälle an das RKI übermittelt, für die gesamte Saison 2021/22 10 621. Im Bericht heißt es:

Die Influenza-Positivenrate hat in der 17. und 18. Kalenderwoche 2022 eine Höhe erreicht, die im Winter den Beginn der saisonalen Grippewelle bedeuten würde.“

In anderen europäischen Ländern stieg die Grippe-Positivenrate schon früher als in Deutschland, insgesamt werteten sie das jedoch nicht als hohe „Influenza-Aktivität“ – von den getesteten Erkrankten hatten also viele die echte Virusgrippe, insgesamt hielten sich die Fallzahlen aber in Grenzen. In den USA hingegen steigt die Influenza-Aktivität ähnlich spät wie hierzulande, bleibt jedoch auch unter vorpandemischen Werten.

Quellen:
https://www.wissenschaft.de/gesundheit-medizin/saisonale-h1n1-influenza-koennte-auf-spanische-grippe-zurueckgehen/
https://influenza.rki.de/
https://www.pharmazeutische-zeitung.de/spaeter-start-der-grippewelle-in-deutschland-133105/
https://www.br.de/wissen/gesundheit/krankheiten/spanische-grippe-influenza-virus-pandemie-106.html

×