Kolumne | Prof. Dr. Aglaja Stirn
IMPFPFLICHT
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Es scheint, dass die Intensität und Polarisierung dieser Debatte ihren Ursprung darin hat, dass eine Pandemie ein Gefühl der Hilflosigkeit erzeugt. Kampf ist nicht möglich, weil das Virus nicht körperlich angegriffen werden kann. Aber auch Flucht funktioniert nicht, wohin auch, das Virus ist überall. Unter solchen Umständen ist es eine Methode, einen Feind zu suchen und die Energie auf ein leichteres Ziel zu lenken. Das verschafft zumindest die Illusion des Handeln-könnens. Aktuell fällt – zumindest in der medial geführten Debatte – den „Impfverweigerern“ die Rolle des Feindes zu.
Damit das funktioniert, muss der Aspekt betont werden, dass die Entscheidung für oder gegen das Impfen eben nicht nur eine persönliche ist. Auf der persönlichen Ebene wird das Risiko einer Impfung dem Risiko einer Infektion gegenübergestellt. Damit eine „Zwangsdebatte“ beim Impfen funktioniert, wird das Argument herangezogen, dass das Gesundheitssystem im Fall eines schweren Verlaufs so stark beansprucht wird, dass diese Ressource anderen dann nicht mehr zur Verfügung steht.
Verallgemeinert heißt das: Wenn jemand sich bewusst einer durch Entscheidung vermeidbaren Gefahr aussetzt und damit eine gemeinschaftliche Ressource belastet, hat die Gemeinschaft vorab ein Mitspracherecht bei der Entscheidung, ob diese Gefahr eingegangen werden darf oder nicht. Beziehungsweise, sie hat sogar einen Anspruch darauf, dass der Einzelne eine bestimmte Entscheidung trifft. Die keineswegs homogene Gruppe der Impfskeptiker oder Impfgegner bekommt zurzeit die negativen Emotionen der Gesellschaft ab. Sicherlich kann durch eine Impfpflicht die Belastung des Gesundheitssystems reduziert werden – allerdings um den Preis eines Eingriffs in die Selbstbestimmungsrechte einer großen Zahl von Bürgern.
Im besten Fall setzt es den Präzedenzfall eines willkürlichen Sich-Darüber-Hinwegsetzens einer relativen Mehrheit über die Interessen einer nicht gerade kleinen Minderheit. Das dahinterstehende Prinzip, private Entscheidungen über ihre Wechselwirkung mit gemeinschaftlichen Ressourcen zu erklären, bei der die Gesellschaft mitentscheiden darf und muss, stellt jedenfalls ein Risiko für bisherige demokratisch-rechtsstaatliche Prinzipien und Prozesse dar. Im Ethikrat wurde der Begriff Freiheitsbalance genannt. Das heißt, eine Freiheit steht einer anderen Freiheit gegenüber.
Wenn es eine Impfpflicht geben sollte, dann wird die Freiheit „sich-impfen-zu-lassen“ eingeschränkt, aber dafür gewinnt die Gesellschaft und damit auch der Einzelne eine andere Freiheit zurück, nämlich wieder mehr öffentliches Leben. Es gibt natürlich auch den Weg der Begünstigungen für Geimpfte, die sogenannte indirekte oder faktische Impfpflicht, die Ungeimpfte weitestgehend aus dem öffentlichen Leben ausgrenzt. Es ist verständlich, dass es eine Sehnsucht nach Handlungen gibt, die den Stress einer weitgehenden Hilflosigkeit des Einzelnen in einer Pandemiesituation lindern.
Zorn auf einzelne Gruppen zu lenken, ist hierbei eine historisch nicht unbekannte Methode. Allerdings hat diese Methode Risiken und Nebenwirkungen. Besser ist es doch zu informieren und mit guten Argumenten zu überzeugen. Andererseits wäre eine Impfpflicht jedoch eine klare Linie und würde die zugespitzte Debatte beenden. Ein Königsweg scheint schwer zu finden, jedoch sollte man sich gegenüber der Meinung anderer nicht verschließen und sie auch gelten lassen.
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 02/2022 auf Seite 12.
Professor Dr. Aglaja Stirn
ist Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und Forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Gruppentherapie, Psychoanalyse und Sexualtherapie an der Universität Kiel, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP. www.zip-kiel.de