Schon mal da gewesen?
FREIHEIT UND FORMEL
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Die Besichtigung der Werke des französischen Künstlers Bernar Venet beginnt an einem hingeschütteteten Kohlehaufen. Die Gruppe, die sich zur Führung zusammengefunden hat, schweigt. Ob wohl einem darunter der Satz durch den Kopf geht: Ist das Kunst, oder kann das weg? Die junge Frau, die durch 150 Kunstwerke Venets aus 60 Jahren führt, spricht dieses Thema an, das einem oft in Zusammenhang mit moderner Kunst begegnet: „Dieser Kohlehaufen wäre ein guter Anlass zu sagen: Was soll das? Das kann ich auch.“
Schon. Aber der Kohlehaufen aus den Anfangszeiten Venets, der nach jeder Schüttung an einem neuen Ort ein bisschen anders aussieht, ist eben auch ein Symbol. So wie die schwarzen, mit Teer überzogenen Leinwände und Kartons ringsherum. Für die radikalen 60er Jahre. Für einen sehr jungen Künstler mit Wurzeln in einer Familie aus Fabrikarbeitern, der nicht viel Geld für sein Arbeitsmaterial hatte. Der Neues schaffen und mit schwarzen Übermalungen Vorheriges auslöschen wollte. Der damals fasziniert von Teer war, einem billigen, aber wegen seiner Viskosität und seiner langen Trocknungszeit zugleich interessanten Material.
Mathematik durchwirkt das Werk Der heute 80-jährige Venet ist Maler, Bildhauer, Konzeptkünstler. Er hat sich phasenweise tief in wissenschaftliche Fragestellungen der Mathematik und Physik versenkt. Das spiegelt sich in seinen Arbeiten, in dafür genutzten Formeln und geometrischen Figuren. Wer mehr wissen will über seinen Werdegang und sein Werk, mit dem er sich und seinen jeweiligen Kunstbegriff immer wieder in Frage gestellt hat, findet dazu Material in der Ausstellung.
Es aufzunehmen, verändert den Blick auf das, was an Werken gezeigt wird. Die gelben und grauen Kunststoffröhren, die geteerten Gemälde, seine erst puristischen, dann wieder farbigeren Kompositionen mit mathematischen Formeln, seine Stahlskulpturen im Raum werden dann ganz anders mit Bedeutung aufgeladen.
Doch alles entfaltet auch für sich eine vielfältige, manchmal rätselhafte Wirkung. „Sein Anspruch liegt in dem uneingeschränkten Willen begründet, die Welt nicht einfach so hinzunehmen, wie sie ist, sondern ihr eine von ihm geschaffene Perspektive zu verleihen“, heißt es in der Einleitung zum Ausstellungskatalog. Im Inneren von Venets gelber Röhre entstehen für den Betrachter je nach Lichteinfall Licht- und Schattenmuster.
Manche Stahlskulpturen ähneln schlichten, eleganten Schriften oder Symbolen, andere überdimensionierten Nudelnestern. Sie füllen die riesigen alten Hangarhallen wie selbstverständlich aus, sehr grazil, obwohl sie tonnenschwer sind. Venets farbige Formelbilder in passenden Formaten scheinen Berechenbarkeit mit Geheimnisvollem zu vereinen.
Lage und Form verändern Kurz: Es ist inspirierend, Venets Objekten und dem Wesen der Kunst im ehemaligen Flughafen Tempelhof nachzuspüren. Zur Eröffnung hat Venet eine seiner Performances beigetragen: Mit dem Gabelstapler hat er eine dominoartige Anordnung von Stahlbögen zum Einsturz gebracht – und damit in eine andere Lage und Form. Das passt zum Ort. Der Flughafen Tempelhof war schließlich schon vieles, unter anderem Teil der geplanten „Welthauptstadt Germania“ der Nationalsozialisten sowie während der Berliner Blockade 1948/1949 Start- und Landeplatz der „Rosinenbomber“.
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 04/2022 auf Seite 126.
Sabine Rieser, freie Journalistin
Infos zur Ausstellung mit zahlreichen Videoclips:
https://www.stiftungkunst.de/kultur/ kunsthalle-berlin-flughafen-tempelhof