Altersdiskriminierung
IM ALTER OHNE INTERNET
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Die 73-jährige Ewa hat das Internet bis vor einem Jahr nie benutzt. „Die jungen Leute sind geboren mit Computern und dem Internet. Für uns ist das alles zu viel“, klagt sie. „Doch im Rathaus, bei der Krankenkasse, beim Optiker – man muss überall online Termine machen. Ich muss das bedienen können.“
Und so kommt sie einmal in der Woche in die Berliner Stadtteilbibliothek Haselhorst. Hier lernt sie in einem Kurs der Arbeiterwohlfahrt gemeinsam mit anderen Senioren und Seniorinnen, wie man ein Mailprogramm einrichtet, Fotos und Videos macht oder in Videokonferenzen geht.
Zunehmende Digitalisierung fördert Altersdiskriminierung
Laut Alternsforscher Hans-Werner Wahl hat die digitale Wende viel Nährboden gegeben, Altersdiskriminierung – also Diskriminierungen wegen des Lebensalters – zu verstärken. „Da hört man dann: „Das können die Alten doch jetzt wirklich nicht. Das sollte man gar nicht erst versuchen“, sagt Wahl von der Uni Heidelberg. „Beim Deutschlandticket gibt es inzwischen auch andere Wege, als es online zu beantragen. Aber da muss man sich teils in langen Schlangen anstellen und Termine im Rathaus sind oft viel leichter online zu bekommen.“
Doch wann gilt man überhaupt als alt?
In der Alternswissenschaft wird häufig die Grenze von 60 oder 65 Jahren genutzt. Inzwischen wird oft auch in ein „drittes und viertes Lebensalter“ unterteilt – also einmal die 60- bis 80-Jährigen und einmal 80-Jährigen und Älteren.
Barrieren in digitalen Räumen gar nicht erst errichten
Nach Angaben des Statistischen Bundesamt hat 2022 gut ein Sechstel (17 Prozent) der 65- bis 74-Jährigen in Deutschland noch nie das Internet genutzt und einer Umfrage der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen zufolge führt das zu Problemen in nahezu allen Lebensbereichen. Besonders gelte das für die Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung und von Bürgerdiensten sowie des Bankensektors.
Aus Sicht des Alternsforschers Wahl haben ältere Menschen unter anderem den Prozess zur Grundsteuer als diskriminierend erlebt. „Man musste von einem Formular ins andere wechseln. Klar, es gibt Zufallseffekte. Damit meine ich, dass man zum Beispiel den Enkel dazu bekommt, einem das eigene Mailprogramm zu erklären und dann klappt es irgendwie“, sagt Wahl. „Ich finde, alles, was in unserer Gesellschaft zu staatsbürgerlichen Verhaltensweisen gehört, darf nicht auf Zufallseffekten basieren.“
Auch die Antidiskriminierungsbeauftragte des Bundes, Ferda Ataman, hat sich dem Thema angenommen. „Es darf nicht sein, dass wir uns darauf verlassen, dass das schon jemand anders für die Person macht. Digitalisierung muss so gestaltet werden, dass alle Menschen barrierefrei mitgenommen werden“, sagt Ataman.
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Internet wichtig für soziale Teilhabe und Selbstbestimmung
Ewas Computer-Dozent in der Stadtteilbibliothek, Daniel Lehmann, versucht dazu etwas beizutragen. „Ich kann vielleicht länger zu Hause leben, wenn ich mir meine Getränke und Lebensmittel online liefern lassen kann“, sagt er. „Oder mir selbst das Bahnticket kaufen kann.“ Das sei wichtig für die Teilhabe. „Eine Teilnehmerin kauft sich nun Theatertickets im Internet und eine andere macht Videokonferenzen mit ihrer Enkelin, die ganz woanders in Deutschland lebt.“
Ewa möchte unter anderem lernen, ein Foto per Mail zu schicken – von einer Rose aus ihrem Garten. In 90 Minuten führt Dozent Lehmann seine sechs Teilnehmer und Teilnehmerinnen durch das Mailprogramm. „Was war das Besondere an der Zeile, in der „An“ steht?“, fragt der 32-Jährige. „Das kann man an ganz viele schicken“, kommt es zurück.
„Genau, anders als ein Postbrief kann man eine E-Mail an mehrere Empfänger schicken“, erklärt Lehmann und geht herum, hilft bei Problemen. Kleine Faustregeln sollen helfen, das Gelernte verinnerlichen. „Kurzer Tipper aktiviert, langer Drücker markiert“, heißt es, wenn es darum geht, Fotos für den Anhang der Mail auszusuchen. Am Ende der Sitzung können alle sechs Teilnehmer eine Mail mit Foto im Anhang verschicken – auch Ewa das Foto von der Rose.
Ältere Menschen in Deutschland: vergessen und ausgegrenzt
Der Antidiskriminierungsbeauftragten Ataman zufolge ist Altersdiskriminierung eines der am meisten unterschätzten Diskriminierungsphänomene in Deutschland. „Es ist erstaunlich, wie viele Mythen es über ältere Menschen gibt. Zum Beispiel wird oft gesagt, ältere Menschen haben sehr viel Macht in unserem Land“, sagt sie. „Gleichzeitig wird die Quote älterer Menschen – zum Beispiel im Deutschen Bundestag – total überschätzt. Dabei liegt die Quote der Über-65-Jährigen dort bei gerade einmal fünf Prozent.“
Auch in der Wirtschaft werden ältere Menschen immer wieder vergessen: Die Supermarktkette Rewe will vom 1. Juli 2023 an keine Handzettel mehr drucken lassen, Deutschlands größte Baumarktkette Obi verzichtet bereits seit Juni auf Prospekte. Schnäppchen müssen online gesucht werden, idealerweise per App auf dem Handy. Ältere Menschen sind einer Studie zufolge jedoch mit 67 Prozent wöchentlicher Nutzung eine der eifrigsten Nutzergruppen der Prospekte. Für viele ältere Menschen sei dies „wie eine Sonntagslektüre“, sagt Martin Fassnacht, Wirtschaftswissenschaftler an der Wirtschaftshochschule WHU in Düsseldorf. „Sie nehmen die Prospekte in die Hand und vergleichen die Preise. Sie legen sie alle nebeneinander.“ Für die Kaufanregung der älteren Generation sei das nach wie vor sehr wichtig.
Doch Alternsforscher Wahl zeigt sich optimistisch. „Wir haben eine alte Arbeitsgesellschaft. Die Älteren sind wichtige Marktteilnehmer“, sagt er. „Was Mut macht, ist, dass wir eine Zeit vor uns haben, in der Altersdiskriminierung einfach geschäftsschädigend ist. Man wird seine Klientel nicht verärgern wollen.“
Quelle: dpa