Blattsalat, Tomaten und Brokkoli unter einer Lupe© Liudmila Chernetska / iStock / Getty Images
Orthorektiker nehmen ihr Essen streng unter die Lupe. Erlaubt ist nur, was gemäß den eigenen Regeln vermeintlich gesund ist.

Orthorexie

KRANKHAFT GESUND ESSEN

Kein Getreide, nur Rohkost, nie nach 17 Uhr … Wenn der Wunsch, sich gesund zu ernähren, zwanghafte Züge annimmt, sprechen Experten von Orthorexie. Oft bleibt die Fixierung aufs vermeintlich vorbildliche Essen nicht ohne Folgen.

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Ganz klar: Es ist eine gute Sache, sich bewusst zu ernähren und Gedanken über das zu machen, was täglich so alles auf dem Teller landet. Wer sich für eine vollwertige, ausgewogene, pflanzenbasierte Kost entscheidet und dabei auch Umweltaspekte und Herkunft der Lebensmittel im Auge behält – der macht eigentlich vieles richtig … 

Problematisch und mitunter sogar äußerst ungesund wird die Auseinandersetzung mit dem „täglichen Brot“ allerdings, wenn gesundes Essen zum Zwang wird. Der Begriff Orthorexia nervosa, kurz Orthorexie, der aus dem Griechischen stammt und frei übersetzt „der richtige Appetit“ bedeutet, beschreibt das noch recht junge Phänomen, das Frauen häufiger betrifft als Männer.

Der Zwang nur noch gesund zu essen

Orthorektiker halten sich akribisch an selbst auferlegte, strikte Ernährungsvorschriften. Ihnen geht es, anders als Menschen mit Anorexie oder Bulimie, nicht um möglichst geringe Kalorienzufuhr und Gewichtsreduktion, sondern darum, nur „reine“ Lebensmittel zu verzehren. Deshalb achten sie peinlich genau auf die Qualität des Essens und streichen im Laufe der Zeit nicht selten immer mehr vermeintlich schädliche Lebensmittel von ihrem Speiseplan.

Verzicht im Namen der Gesundheit

Nicht nur Schnitzel, Pommes und Fertigpizza fallen der Zensur zum Opfer, sondern oft ganze Lebensmittelgruppen. Da darf beispielsweise weder Tierisches noch Brot auf den Tisch kommen, kein Gluten, kein Salz, kein Zucker, Konservierungs- oder Aromastoffe schon gar nicht. Alkohol ist tabu, ein Restaurantbesuch unmöglich, die Einladung zum Essen bei Freunden wird ausgeschlagen. 

Der eine Orthorektiker isst lediglich zu bestimmten Uhrzeiten, der andere ernährt sich prinzipiell nur von Rohkost, der dritte besteht darauf, Lebensmittel ausschließlich in einem bestimmten Bioladen zu kaufen. Die strengen, selbst aufgebürdeten Regeln, die sich längst nicht immer an wissenschaftlich begründeten Ernährungsempfehlungen der Fachgesellschaften orientieren, können individuell recht unterschiedlich sein. 

Gemeinsamkeit: Betroffene sind davon überzeugt, ihrem Körper auf diese Weise Gutes zu tun, ihre Gesundheit zu fördern, sich Krankheiten vom Hals zu halten – und generell auf dem rechten Weg zu sein.

Im Eiltempo in die Isolation

Weil sie von ihrem Tun 100-prozentig überzeugt sind und sich ihren allesessenden Mitmenschen überlegen fühlen, haben Betroffene nicht selten das Bedürfnis, andere zu bekehren. Konflikte sind vorprogrammiert, wenn jede Currywurst der Kollegen kommentiert wird, jedes Kuchenstück eine Grundsatzdiskussion auslöst. Wird die Missionsarbeit arg übertrieben, können Orthorektiker schnell zu nervigen Besserwissern abgestempelt werden und ins Abseits geraten. 

Soziale Isolation kann aber auch daraus resultieren, dass Menschen mit Orthorexia nervosa schlichtweg die Zeit fürs normale Miteinander fehlt. Schließlich ist die intensive Beschäftigung mit dem Essen ein sehr zeitaufwändiges Unterfangen – da wird im Internet über Nährwerte und Zubereitungsmethoden recherchiert, da werden Mahlzeiten Tage im Voraus geplant, da wird ein schlichter Einkauf zum bedeutungsschweren Prozess. Oft nimmt die Nahrung einen so großen Raum im Alltag ein, dass für Hobbys, Freunde und Familie kaum noch Zeit und Energie bleiben.

Von der Marotte zum Mangel

Bedenklich ist Orthorexie aber nicht nur, weil sie mit weitreichenden Einschränkungen im Privat- und Berufsleben einhergehen kann, sondern auch, weil sie die physische Gesundheit ernsthaft gefährden kann. So paradox es klingt: Der zwanghafte Wunsch, sich vorbildlich zu ernähren, kann in einer bedenklichen Mangelernährung münden. Etwa dann, wenn immer mehr Speisen durchs „Gesundheitsraster“ fallen und es aufgrund stark eingeschränkter Lebensmittelauswahl und einseitiger Ernährung zu einem bedenklichen Defizit an lebenswichtigen Nährstoffen, Vitaminen und Mineralstoffen kommt. 

Und damit nicht genug: Aus der übermäßigen Auseinandersetzung mit vermeintlich gesunder Kost und dem extrem unflexiblen, kontrollierten Essverhaltens kann eine gefährliche Essstörung entstehen. Auf Orthorexie folgen mitunter Magersucht (Anorexia nervosa) oder Ess-Brechsucht (Bulimia nervosa).

Orthorexie erkennen: Bratman-Selbsttest

Geprägt wurde der Begriff Orthorexia nervosa (griechisch: orthos = richtig, orexis = Appetit) von dem amerikanischen Arzt Steven Bratman. Er beobachtete orthorektisches Essverhalten bei sich selbst und beschrieb das Phänomen im Jahr 1997. 

Zur Überprüfung einer möglichen Orthorexie entwickelte Bratman einen Fragenkatalog, der Arztkonsultation und Diagnose selbstverständlich nicht ersetzen kann. Je mehr Fragen mit „Ja“ beantwortet werden, desto wahrscheinlicher soll eine Orthorexie sein.

  • Denken Sie mehr als drei Stunden am Tag über Ihre Ernährung nach?
  • Planen Sie Ihre Mahlzeiten mehrere Tage im Voraus?
  • Ist Ihnen der ernährungsphysiologische Wert Ihrer Mahlzeit wichtiger als die Freude an deren Verzehr?
  • Hat die Steigerung der Lebensmittelqualität zu einer Minderung der Lebensqualität geführt?
  • Sind Sie in letzter Zeit mit sich strenger geworden?
  • Steigert sich Ihr Selbstwertgefühl durch gesunde Ernährung?
  • Verzichten Sie auf Lebensmittel, die Sie früher gerne gegessen haben, um nun „richtige“ Lebensmittel zu essen?
  • Haben Sie durch Ihre Essgewohnheiten Probleme auszugehen und distanzieren Sie sich dadurch von Freunden und Familie?
  • Fühlen Sie sich schuldig, wenn Sie von Ihrer Diät abweichen?
  • Fühlen Sie sich glücklich und unter Kontrolle, wenn Sie sich gesund ernähren?

Störung ohne offiziellen Status

Wichtig zu wissen ist in diesem Zusammenhang, dass die Orthorexia nervosa bislang keine im Diagnosesystem offiziell gelistete Essstörung und keine eigenständige Krankheit ist; die wissenschaftliche Erforschung des Phänomens hat erst in jüngster Zeit Fahrt aufgenommen. 

Ob und inwiefern die zwanghafte Ernährungsform künftig als autarke Erkrankung eingestuft werden kann, wird in Fachkreisen mittlerweile intensiv diskutiert. Einig sind sich Experten weitgehend darüber, dass es Parallelen zwischen Orthorexie und Zwangsstörungen gibt. 

Aber auch Unterschiede: Während Zwangserkrankte, die bestimmte Handlungen oder Gedanken immer wieder ausführen beziehungsweise denken müssen, wissen, dass ihr Tun übertrieben und sinnlos ist, sind Orthorektiker meist felsenfest davon überzeugt, richtig zu handeln. Die fehlende Einsicht, dass ihre strikten Ernährungsregeln der Gesundheit eher schaden als nutzen, macht den Dialog mit Betroffenen schwierig – und eine Behandlung oft lange Zeit undenkbar.

Blick über den Tellerrand 

Erst wenn der Leidensdruck überhandnimmt, suchen Betroffene dann häufig doch professionellen Rat. Erste Ansprechpartner können Hausärzte sein, helfen können Ernährungsberater und Psychotherapeuten, die sich mit Essstörungen und Zwangserkrankungen auskennen. Sinnvoll kann auch der Austausch in einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Essstörungen sein. Im Rahmen einer Therapie können Orthorektiker ein neues Essverhalten erlernen und erfahren, was es wirklich heißt, gesund und achtsam mit dem eigenen Körper umzugehen.

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