Medizingeschichten
EIN URWALDHOSPITAL IN LAMBARÉNÉ
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Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL schreibt 1964 über ihn: „Er sieht aus wie ein naher Verwandter des lieben Gottes“. Wohl wahr. Mit seinem Tropenhut, dem buschigen weißen Schnurrbart und den markanten Zügen ist er im Kollektivgedächtnis der Menschen geblieben. Albert Schweitzer war ein Multitalent, ein Philanthrop, und er war ausgesprochen tatkräftig.
Er wird im oberelsässischen Kayserberg als Kind eines Pfarrers geboren. Dort werden aufgrund der Länderzugehörigkeit – das Elsass war mal deutsch, mal französisch - beide Sprachen gesprochen – eine Gabe, die dem kleinen Albert später noch zum Vorteil gereichen wird.
Dozent für Theologie
Überhaupt, seine Gaben: Das Schicksal hat sie reichlich über ihm ausgeschüttet. Der junge Schweitzer liebt die Musik, vor allem die kirchliche, und hier besonders das Orgelspiel. Nach dem Abitur studiert er erst einmal Theologie und Philosophie in Straßburg, nimmt daneben in Paris Orgel- und Klavierunterricht bei namhaften Musikern. Fünf Jahre nach Studienbeginn legt er sein erstes theologisches Examen ab, ein Jahr später folgt schon die Dissertation über Kant, zwei Jahre später eine über die Historie der Abendmahlsauffassungen. Schweitzer ist nun zweifacher Doktor, doch er legt noch einen drauf: Ein Jahr nach der letzten Dissertation, 1902, habilitiert er in evangelischer Theologie und wird Dozent für Theologie an der Universität Straßburg.
Afrikamission
Doch das ist erst der Anfang. Albert Schweitzer hat sich geschworen, dass er nach seinem 30. Geburtstag „einen Beruf im Dienste der Menschheit“ aufnehmen wird. Bei der Kongomission brauchen sie noch Personal und der frischgebackene Dozent beschließt, dorthin zu gehen. Er bewirbt sich also bei der zuständigen Missionsgesellschaft, doch die finden seine theologische Haltung allzu liberal und zögern, ihn einzustellen.
Mit der ihm eigenen Energie schreibt er den Herren von der Afrikamission, dass er gedenke, als Arzt und nicht als Missionar auf den schwarzen Kontinent zu wechseln. Dazu muss Schweitzer noch mal eben Medizin studieren. Der Fall ist neu: Erst eine Sondererlaubnis von höchster Regierungsstelle macht es möglich, dass sich der knapp 30-Jährige einschreiben darf. Der Doktor der Philosophie und der Theologie legt nur fünf Jahre später ein glänzendes medizinisches Staatsexamen ab, erhält zwei Jahre später die Approbation und ein Jahr später die Doktorwürde. Da hat ihn die Universität Straßburg gerade zum Professor für Philosophie ernannt.
Doch Schweitzer ist jetzt da, wo er hinwollte: Er verzichtet auf die Lehrtätigkeit und reist gemeinsam mit seiner Frau Helene nach Gabun. Den dritten Doktorgrad hat er gerade in der Tasche, seine junge Frau hat sich zur Krankenschwester ausbilden lassen – in der französischen Kolonie findet er das, was er immer gespürt und vorausgeahnt hat: seine Lebensaufgabe. 1913 beginnt das Wirken Albert Schweitzers in Afrika. Das Land wird ihn nie wieder loslassen.
Hausarrest während des Ersten Weltkrieges
Doch zunächst macht dem Ehepaar der Erste Weltkrieg einen Strich durch die Rechnung. Von der französischen Armee festgenommen, unter Hausarrest gestellt und nach Bordeaux überführt, bleiben die Schweitzers bis 1918 interniert. Selbst hier, in dieser Situation, noch dazu körperlich ausgelaugt, entwickelt der Wissenschaftler das Fundament einer neuen Ethik. Die später schriftlich fertig gestellte Moraldiskussion „Ehrfurcht vor dem Leben“ enthält seinen meistzitierten Satz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“ Mit der konsequenten Umsetzung wird Albert Schweitzer übrigens später zum Vegetarier, was damals ungewöhnlich war.
"Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will."
Aufbau eines Urwaldhospitals
Wieder im Elsass zurück, hält der Arzt und Philosoph Vorträge und Reden, spielt Orgelkonzerte – alles zu dem Zweck, Geld zu sammeln, um so bald wie möglich nach Lambaréné zurückzukehren und dort sein Urwaldhospital weiter aufzubauen. 1924 ist es soweit, und auch die Geburt der inzwischen fünfjährigen Tochter Rhena hält ihn nicht zurück – Frau und Kind bleiben erstmal zu Hause, denn Helene ist nicht ganz gesund.
Mit einem Hühnerstall, der zum Behandlungsraum umgebaut wird, fängt es an. Schweitzer achtete darauf, dass sein Spital unabhängig arbeiten konnte, und das sowohl wirtschaftlich, administrativ als auch versorgungstechnisch. Im Gemüsegarten gab es Nahrung, in selbstgebauten Pferchen wurden streng nach des Doktors „Ehrfurcht vor dem Leben“ auch Tiere behandelt. Seine Tochter Rhena wird später sagen: „Mein Vater kam mir immer wie ein Patriarch im Alten Testament vor, mit seiner Sippe von schwarzen und weißen Menschen. Und obwohl er unerbittlich sein konnte über die Art, in der er etwas getan haben wollte, nahm man das hin, denn er hatte dieses Lambaréné geschaffen.“
Heute ist das von Albert Schweitzer erbaute Krankenhaus eine Spitalsiedlung mit über tausend Beschäftigten, die meisten aus Gabun. Es wird getragen von einer Internationalen Stiftung und umfasst unter anderem allgemeinmedizinische und chirurgische Abteilungen sowie eine Kinder- und Geburtsklinik. Angegliedert sind außerdem eine Zahnklinik und ein Forschungslabor für Malaria. Das von Albert Schweitzer gegründete Lepradorf gibt es immer noch; es leben dort ehemalige Kranke mit ihren Angehörigen.
Verleihung des Friedensnobelpreises
Albert Schweitzer führt jedoch nicht nur dieses eine Leben. Er sieht sich immer auch als Philosoph, arbeitet beständig an seiner „Ethik“, nimmt Stellung zu Zivilisationsprozessen, zu Kriegstreiberei, zu religiösen Fragen und er propagiert den Pazifismus (wofür er 1954 den Friedensnobelpreis erhält). Er ist aber auch Musikwissenschaftler, schreibt eine heute noch gültige Bach-Monographie, übt sich weiterhin als Instrumentalist, wozu ihm in Lambaréné auch ein aus tropenfestem Holz gebautes Klavier mit Orgelpedal verhilft.
Der weltberühmte und von den Eingeborenen hochverehrte Doktor stirbt 1965, da ist er neunzig Jahre alt. Erst ein Jahr zuvor hat er die Leitung des Spitals in andere Hände gegeben. Er wird in Lambaréné neben seiner Frau beigesetzt. Drei Monate lang tanzen die Afrikaner an der Stelle seines Grabes Totentänze. Der in Lambarene tätige Arzt Dr. Ary van Wijnen wusste, warum: „Sie wollten den Menschen im Jenseits zeigen, was für ein bedeutender Mann zu ihnen kommt.“
Quelle: Nils Ole Oermann: „Albert Schweitzer. Eine Biographie“, C.H.Beck 2009.