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Schwindel

VON BOGENGÄNGEN UND OHRSTEINCHEN

Der Boden fängt an zu schwanken und alles dreht sich – dieses Gefühl kennen vor allem ältere Menschen. Ist es ein echtes Organ, das uns im Gleichgewicht hält? Wo genau befindet es sich und wie arbeitet es?

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Normalerweise spürt man das Gleichgewichtsorgan nicht und macht sich darüber auch gar keine Gedanken. Erst, wenn es einem schwindelig wird, fragt man sich vielleicht, wie der Organismus normalerweise das Gleichgewicht steuert. Das Organ gibt es tatsächlich: Es ist der Vestibularapparat, er liegt im Innenohr und arbeitet eng mit Augen und Gehirn zusammen. Seine Aufgabe ist es, dem Gehirn Informationen zur Beschleunigung in den drei Raum- ebenen, also nach oben und unten, nach vorne und hinten und nach rechts und links zu geben. Außerdem registriert er die Zunahme und Abnahme von Geschwindigkeiten.

Zwei verschiedene Systeme Man unterscheidet dabei zwei Systeme, die eng zusammen arbeiten: Das statische System spricht auf lineare Bewegungen und auf die Erdanziehung an, während das Bogengangsystem rotatorische Bewegungen registriert. Beide Systeme liegen im Innenohr, genauer in der Felsenbeinpyramide, die sich wiederum im häutigen Labyrinth des Innenohrs befindet. Das statische System des Gleichgewichtsorgans besteht aus zwei mit Endolymphe gefüllten Bläschen. Diese Endolymphe ist eine Flüssigkeit, die in ihrer Zusammensetzung in etwa der Flüssigkeit im Inneren einer Zelle entspricht. Die beiden Bläschen werden Sacculus (lat. Säckchen) und Utriculus (lat. kleiner Schlauch) genannt und sind miteinander verbunden. Beide haben in einem kleinen Bereich ein Feld mit Sinnes- oder Haarzellen, dies ist das Maculaorgan. Die Haarzellen der Macula des Utriculus stehen waagerecht, die des Sacculus stehen senkrecht. Sie ragen in eine galertartige Membran, in die feine Kalziumcarbonatkristalle eingelagert sind – die sogenannten Ohrsteinchen oder Otolithen, auch Statholiten genannt.

Funktion des Maculaorgans Da die Kristalle eine höhere Dichte als die Endolymphe haben, folgen sie der Schwerkraft und drücken, wenn man aufrecht steht und den Kopf gerade hält, auf die Sinneshärchen der Macula des Utriculus, die horizontal stehen. An den Sinneshärchen der Macula des Sacculus, die senkrecht stehen, ziehen sie. Dadurch entsteht die Empfindung einer aufrechten Körperhaltung. Wenn die Lage des Kopfes sich ändert, ziehen die Kalkkristalle, die immer der Schwerkraft folgen, dann an der höher gelegenen Seite und drücken auf die tiefer gelegene. So entsteht ein Gefühl von oben und unten. Der Vestibularapparat vermittelt auch ein Gefühl von Steigen und Fallen, zum Beispiel beim Aufzugfahren, weil bei der Fahrt nach oben das Maculaorgan des Utriculus stärker belastet wird und bei der Fahrt nach unten wieder entlastet wird.

Der Gleichgewichtssinn war bei Wirbeltieren ursprünglich die einzige Funktion des Hörorgans. Erst im weiteren Verlauf der Evolution kam die Funktion des Hörens hinzu.

Diese Zustandsänderungen werden an das Zentralnervensystem weitergeleitet, das dann als Reflex den Spannungszustand der Skelettmuskulatur korrigiert. Das Ziel ist immer die aufrechte Haltung des Körpers, die ein Fallen verhindern soll. Das ist aber noch nicht alles: Eng verbunden mit dem Utriculus sind die Bogengänge des Gleichgewichtsorgans. Es handelt sich um drei in den drei Raumebenen liegende und senkrecht aufeinander stehende bogenförmige Gänge – einem horizontalen, einem frontalen und einem vertikalen. Jeder der drei Bogengänge bildet einen ringförmigen Schlauch, der dem Utriculus entspringt und dort auch wieder mündet. An einem Ende jedes Bogenganges trägt die Oberfläche Stütz- und Sinneszellen. Sie besitzen Härchen, die ebenfalls in eine galertartige Masse ragen.

Wenn sich die Masse bewegt, reagieren die Sinneszellen. Bei einer Rotationsbewegung des Kopfes in der Ebene eines der drei Bogengänge bleibt die Endolymphe wegen ihrer Trägheit zunächst stehen und hält somit auch die Flüssigkeit fest. Der knöcherne Basisteil des Bogengangs wird aber weiter bewegt, wodurch die Sinneszellen mechanisch gereizt werden. Diese Reize werden in elektrische Erregungen der Nerven umgewandelt und an das Gehirn weitergeleitet. Um eine stabile Körperhaltung aufrecht zu erhalten, werden nun auch wieder die entsprechenden Muskelgruppen aktiviert oder deaktiviert. Die Arbeit des Gleichgewichtsorgans – nämlich die dauernde Orientierung im dreidimensionalen Raum – ist sehr wichtig, um sich an veränderte Körperhaltungen schnell anpassen zu können.

Durch das Zusammenwirken beider Systeme des Gleichgewichtsorgans – dem statischen und dem Bogengangsystem – können Lage und Bewegungen des Kopfes sehr genau bestimmt werden. Die Sinneszellen im Gleichgewichtsorgan sind in einer dauerhaften Erregung, senden also auch im Ruhezustand Signale ans Gehirn, die bei Bewegungen entsprechend vermehrt oder gehemmt werden. Vor allem für den aufrechten Gang des Menschen ist dieses System der raschen Information aus dem Gleichgewichtsorgan von großer Wichtigkeit. Von den Sinneszellen gelangt die Sinnesinformation über den VIII. Hirnnerv, den Nervus vestibulocochlearis, zu den entsprechenden Nervenkernen im Hirnstamm. Man nennt sie Vestibulariskerne. Sie erhalten zusätzliche Informationen von den Augen, vom Kleinhirn und auch vom Rückenmark.

Die Verschaltung des Gleichgewichtsorgans mit den Augenmuskeln ermöglicht die visuelle Wahrnehmung eines stabilen Bildes während man gleichzeitig den Kopf bewegt. Ist die Funktion eines dieser Systeme gestört, kann das widersprüchliche Informationen aus den einzelnen Sinnesorganen zur Folge haben. Dies kann zu einem Schwindelanfall führen. Funktionsstörungen der Otolithen beispielsweise können den gutartigen Lagerungsschwindel hervorrufen. Neuere Untersuchungen zeigen, dass das Gleichgewichtsorgan im Innenohr nicht nur für die Orientierung im Raum zuständig ist: Eine weitere wichtige Rolle spielt es bei der präzisen Steuerung der Körperbewegungen. Insbesondere bei Bewegungen im Dunkeln oder bei komplexen Bewegungsabfolgen, wie sie zum Beispiel Turner oder Artisten ausführen, scheint diese Funktion eine wichtige Rolle zu spielen.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 05/17 ab Seite 74.


Sabine Breuer, Apothekerin/Redaktion

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