Politik
STURM FÜR ARZNEIMITTELINNOVATIONEN
Seite 1/1 3 Minuten
Entwurzelte Bäume, abgedeckte Häuser und schwerer Sturm mit Windgeschwindigkeiten bis zu einhundert Stundenkilometer, das bedeutet Windstärke 10. Schenkt man der innovativen Pharmaindustrie Glauben, braut sich hier zu Lande ein Sturm zusammen, der Spuren bei der Branche und der Patientenversorgung hinterlassen wird. Was ist geschehen?
Insulinanaloga Der G-BA – das oberste Beschlussgremium der Selbstverwaltung, das in Form von Richtlinien den Leistungskatalog für mehr als siebzig Millionen Versicherte der gesetzlichen Krankenversicherung festlegt – hat beschlossen, dass es zur Behandlung des Diabetes mellitus Typ 1 und Typ 2 auch Festbeträge für innovative Insulinanaloga geben wird.
Humaninsuline und Insulinanaloga sollen künftig in drei Festbetragsgruppen – schnell wirkende Insuline, intermediär und lang wirkende Insuline sowie Mischinsuline – zusammengefasst und so das Wirtschaftlichkeitsgebot konkretisiert werden. Ausgenommen von den Festbetragsgruppen bleiben Insulinpräparate in Durchstechflaschen, die für die Pumpentherapie zugelassen sind.
Aus „heiterem Himmel“ kommt der Beschluss des G-BA nicht. Bereits im Jahr 2010 beschloss das Gremium auf Basis einer Nutzenbewertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) die Verordnungsfähigkeit lang wirkender Insulinanaloga Insulin Glargin (Lantus®) und Insulin Detemir (Levemir®) bei Typ-2-Diabetes aus Kostengründen stark einzuschränken, da das Behandlungsziel mit Humaninsulin in der Regel ebenso zweckmäßig, aber kostengünstiger zu erreichen sei. Trotzdem blieben die Präparate zu Lasten der GKV verordnungsfähig, da die betroffenen Pharmaunternehmen mit fast allen Krankenkassen so genannte Mehrwertverträge abschlossen und auf diese Weise trotzdem die Wirtschaftlichkeit der Präparate sicherstellten.
Nichtsdestotrotz forderte das Bundesministerium für Gesundheit den G-BA auf, die Einbeziehung der kurz- und langwirksamen Insulinanaloga in die entsprechende Festbetragsgruppe umfassend zu prüfen. Dieser Auftrag wurde mit der aktuellen Festbetragsgruppierung nunmehr abgeschlossen und wird im Falle der Nicht-Beanstandung durch das BMG wirksam.
In einem weiteren Schritt werden dann vom GKV-Spitzenverband die Festbeträge für die drei Gruppen so festgesetzt, dass eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche sowie in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleistet, Wirtschaftlichkeitsreserven ausgeschöpft und ein wirksamer Preiswettbewerb ausgelöst wird. Mitte des Jahres könnte es so weit sein. Patientenvertretern befürchten vor allem, dass die Hersteller ihre Preise nicht auf Festbetragsniveau absenken und damit Aufzahlungen für Patienten fällig werden. Die betroffen Pharmaunternehmen sehen einen Rückschlag für die moderne Insulintherapie und befürchten durch Referenzpreisbildung finanzielle Verluste auch im Exportgeschäft.
Linagliptin Im Jahr 2007 wurde als erster Hemmstoff der Dipeptidylpeptidase-4 Sitagliptin eingeführt. Es folgten Vildagliptin und Saxagliptin. Der neuste Vertreter der DPP-4-Inhibitoren, Linagliptin (Trajenta®), wird jedoch weiterhin keine Therapieoption für Diabetiker in Deutschland sein, obwohl das Arzneimittel seit August 2011 für die Verbesserung der Blutzuckerkontrolle bei Erwachsenen mit Typ-2-Diabetes zugelassen ist, hier zu Lande entwickelt wurde und hergestellt wird. Denn auch beim zweiten Anlauf fiel Trajenta® bei der frühen Nutzenbewertung des IQWiG durch.
Ein Zusatznutzen im Vergleich zur festgelegten zweckmäßigen Arzneimitteltherapie (Sulfonylharnstoff- bzw. Biguanid-Derivate) sei durch die vorgelegten Studien nicht belegt, so der G-BA. Im Gegensatz zu Linagliptin gibt es für die patentfreien Wirkstoffe Metformin (Glucophage®, Generika) oder Glibenclamid (Euglucon®, Generika) aufgrund der langjährigen Therapieerfahrung positive Daten zu klinischen Endpunkten.
Die Schlussfolgerung des G-BA ist einerseits überraschend, weil laut Auskunft der Hersteller Boehringer Ingelheim und Lilly inzwischen positive Therapie-erfahrungen in rund vierzig Ländern gesammelt wurden. Die Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) hält die Bewertung gar für „wissenschaftlich nicht haltbar“ und „methodisch mangelhaft“. Aus Sicht der DDG gibt es derzeit keinen Zweifel am Vorteil der Gliptine gegenüber Sulfonylharnstoffen. Wie in der Vergangenheit bei anderen frühen Nutzbewertungen ist die Wahl der Vergleichstherapie wiederum wissenschaftlich umstritten.
Andererseits ist die Entscheidung des G-BA zu Linagliptin besorgniserregend, weil sie eine Signalwirkung für Gliptine des Bestandsmarktes haben könnte. Denn die Nutzenbewertung ist keinesfalls auf neue Arzneimittel beschränkt. Vielmehr lässt sich die mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz anvisierte Einsparsumme von zwei Milliarden Euro durch Arzneimittelnutzenbewertungen nur realisieren, wenn auch der Bestandmarkt patentierter Arzneimittel in Angriff genommen wird.
Im schlimmsten Fall drohen dann selbst innovativen Arzneimitteln mit neuem Wirkungsmechanismus Erstattungspreise auf dem Niveau von Generika. Die Bewertung der Gliptine ist angelaufen, andere innovative Arzneimittelgruppen werden folgen. Aus Windstärke zehn könnte ein Orkan mit möglicherweise zerstörender Wirkung auf den Pharma- und Forschungsstandort Deutschland werden.
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 04/13 ab Seite 112.
Dr. Michael Binger, Hessisches Sozialministerium