Mann steht vor Wandbild.© francescoch / iStock / Getty Images

Helfersyndrom

MAN MUSS AUCH MAL NEIN SAGEN!

Anderen Menschen zu helfen ist eine wunderbare Erfahrung. Vor allem, wenn es nur ums Helfen und nicht um die große Dankbarkeit der anderen Seite geht. Helfen kann aber auch pathologische Züge annehmen.

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Ach, Du liebe Güte! Da klagt Ihnen ein Freund sein Leid, Sie entscheiden sich, ihm in einer misslichen Situation unter die Arme zu greifen und investieren viel Zeit und Herzblut, und dann kommt jemand und behauptet, Sie machten das alles nur, um Anerkennung zu bekommen, weil Sie am Helfersyndrom litten. Also, das ist ja wohl das Dämlichste, was Sie je gehört haben!

Ist es das tatsächlich? Hilfsbereitschaft und Selbstaufgabe sollten nicht im Paket auftauchen. Klingt logisch und selbstverständlich, ist aber in der Realität eine Kombination, die häufig vorkommt und in vielen Fällen zu Missverständnissen, Enttäuschungen und Verletzungen führt. Man kann fast davon ausgehen, dass jeder Mensch eine andere Definition von Hilfe und Hilfsbereitschaft hat.

Überlegt man sich dann noch, ob diese Begriffe aus einer aktiven, also gebenden, oder aus einer passiven, sprich empfangenden Position heraus Bedeutung erlangen, lässt sich schon fast nicht mehr allgemeingültig mit diesen beiden Begriffen umgehen. Bezieht man dann noch ethische, kulturelle, moralische oder gar religiöse Einflüsse mit ein, wird das Ganze noch komplexer. Ich will versuchen, es einfach zu machen.

Hilfe – ein Mammutbegriff Ich nähere mich dem Begriff über die beim „Volkslexikon“ Wikipedia nachzulesende Definition: „Hilfe im Sinne tätiger Hilfsbereitschaft ist ein Teil der Kooperation in den zwischenmenschlichen Beziehungen. Sie dient dazu, einen erkannten Mangel zu beseitigen oder eine änderungswürdige Situation oder Notlage zu verbessern. Der Hilfe geht entweder eine Bitte des Hilfebedürftigen oder eine von ihm unabhängige Entscheidung durch Hilfsbereite voraus.“

Aha. Das heißt, neutral betrachtet, muss eine Situation mit zwei Parteien gegeben sein, in der die eine Seite irgendwie Not leidet und um Hilfe ansucht und die andere Seite freiwillig oder gebeten diese Not lindern kann. Klingt einfach und ist es im Grunde auch. Wenn das Ganze dann noch ohne Ausgleichserwartungen des Helfenden vonstattengeht, sind wir der Hilfe, wie sie im Idealfall geschieht, schon sehr nah.

Was beinhaltet der Begriff Hilfe? Haben Sie sich schon mal überlegt, was Hilfe alles sein kann? Die Enzyklopädie der Wertvorstellungen führt dazu unter anderem Gutmütigkeit, Bereitwilligkeit, Gefälligkeit, Nächstenliebe, Humanität, Entgegenkommen, Wohltätigkeit, Menschenfreundlichkeit, Menschlichkeit und zahlreiche weitere Synonyme auf. Zum Teil kleine Nuancen unterscheiden diese Begriffe, und doch haben sie alle irgendwie mit Hilfe zu tun.

Selbstlos und freiwillig gelebt, erhalten sie erst recht ihren tiefen Sinn. Das Gefühl, einem anderen Menschen Gutes getan zu haben, ohne dafür einen Ausgleich zu erwarten, ist überwältigend und wurde nicht zuletzt im Rahmen der Flutkatastrophe im Ahrtal tausendfach weitergegeben und ist ganz aktuell bei der Ukraine-Hilfe wieder zu erleben.

Selbstlosigkeit, Selbstaufgabe oder Selbstsucht? Der Mensch als soziales Wesen lernt im Laufe seines Lebens, dass Geben und Nehmen in Zusammenhang stehen und dass Dankbarkeit Gefühle wie Gebrauchtwerden, Geliebtwerden und Anerkanntsein auslöst. Nun ist es aber etwas anderes, ob jemand in einer Situation mit Rat oder Tat zur Seite steht, oder ob er immer der Erste ist, der seine tätliche Hilfe anbietet, ja förmlich aufdrängt und auch noch für sich etwas erwartet.

Der bekannte Psychoanalytiker und Autor Wolfgang Schmidbauer hat in seinem 1977 erschienenen Buch „Die hilflosen Helfer“ den Begriff „Helfersyndrom“ geprägt – mittlerweile ein Wort, das uns allen bekannt ist, allerdings eher in einem negativen, da neurotischen oder egoistischen Sinn. Schmidbauer bezog sich primär auf Angehörige der helfenden Berufe und die Gefahr, eigene Probleme als Basis einer zwanghaften und realitätsfernen Helferhaltung nicht zu erkennen. Im Alltag beziehen wir uns mit dem Begriff des Helfersyndroms allgemein auf Menschen in Situationen, die ihnen aus einem inneren Zwang heraus keine andere Wahl lassen, als zu helfen. „Ich kann nicht anders“, sagte vor einiger Zeit eine Freundin zu mir. Sie müsse einfach helfen.

Dabei geraten die Helfenden in eine Art Strudel, sie verlieren das Gefühl für ihre eigenen Bedürfnisse und sich selbst, da sie vorrangig die Bedürfnisse und Probleme anderer als Maßstab nehmen und auf diesem Weg nach Bestätigung heischen. Der Blick für die Objektivität des eigenen Handelns wird verschoben, und auf Dauer führt in vielen Fällen ein solch überzogenes Verhalten zu psychischen und energetischen Problemen, heute zählt Burnout dazu.

Die Psychologie ordnet dem Begriff Helfersyndrom erstaunliche Aspekte unter: geringes Selbstwertgefühl, Vernachlässigung eigener Bedürfnisse, Wünsche des Geholfenen werden ignoriert, nicht die Hilfe steht im Vordergrund, sondern das Bedürfnis nach Anerkennung, eigene Vorstellungen werden aufgedrängt, körperliche Grenzen werden übersehen, fremde Unterstützung wird bei der Hilfe abgelehnt. Wow, das haut rein, oder?

Der macht das schon! Wir kennen das alle: Bei der Arbeit, im Freundeskreis, in der Familie fallen immer wieder Arbeiten an, die keiner übernehmen will. Es sind dann jedes Mal dieselben, die sich nicht nur bereit erklären, die Aufgabe zu übernehmen, sondern das auch noch gerne tun, „damit allen rasch geholfen ist“. Grundsätzlich ist das in Ordnung. Dumm wird es erst, wenn sich die Gruppe immer mehr daran gewöhnt, dass da ja einer ist, der sich stets der unliebsamen Aufgaben annimmt. Eine solche Hilfsbereitschaft stellt für die Gemeinschaft vielleicht einen hohen Wert dar, sie darf eben nur nicht ausgenutzt werden.

Eigene Interessen des Helfenden werden nämlich zurückgestellt. Das Helfen darf den Helfenden in keinem Fall ausbeuten. Ich brauche das! Ab hier wird Hilfsbereitschaft bedenklich. Bietet ein Mensch einem anderen Menschen unentwegt seine Hilfe an, ja, drängt er sie förmlich auf, obwohl der andere weder gefragt hat noch in einer Situation ist, in der er tatsächlich Hilfe benötigt, kommen ungute Facetten ins Spiel. Altruismus steht in krassem Gegensatz zu Eigennutz. „Ich brauche das“, spürt der Helfende meist gar nicht, aber sein Zwang, anderen Menschen unter die Arme greifen zu müssen, rührt eben oft daher, dass er sich klein und unbeachtet fühlt.

Er sucht nach Möglichkeiten, für eine Leistung gelobt und aus der Menge herausgehoben zu werden, sein Ego braucht Streicheleinheiten, er muss das Gefühl haben, gebraucht zu werden und unentbehrlich zu sein. Sein Selbstwertgefühl bedarf der Stärkung. Leider ist in diesem Fall das Helfen nur ein Mittel zum Zweck, und eigentlich ist er der Hilfebedürftige, es müsste vielmehr ihm geholfen werden.

Bittere, aber notwendige Erkenntnis Um zu wissen oder herauszufinden, ob man selbst vielleicht in einer solchen Situation ist, nämlich ob man hilft, um Anerkennung zu bekommen, sollte man sich vor einen Spiegel stellen und sich fragen, was von einem übrig bliebe, wenn man nicht mehr helfen würde. Was erwarte ich von meinem Leben, welche Wünsche habe ICH? Warum will ich immer für andere da sein?

Mit ein bisschen Ehrlichkeit kann man auf diese Fragen durchaus Antworten finden, für schwierigere Fälle ist oft eine Psychotherapie das geeignete Mittel der Wahl. Ziel muss es sein, den Selbstwert zu erhöhen, sich selbst besser anzunehmen, sich die eigenen Vorzüge deutlich zu machen, um nicht mehr von der Anerkennung anderer abhängig zu sein. Dann klappt das auch mit dem NEIN sagen.

Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 04/2022 ab Seite 106.

Wolfram Glatzel, freier Journalist

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