Long-COVID – Langes Nachspiel
21 Minuten
01. April 2023
Langzeitfolgen sind auch von anderen Infektionskrankheiten bekannt (z. B. Pfeiffersches Drüsenfieber, MERS, SARS). Aktuelle Studien lassen aber vermuten, dass es nach einer SARS-CoV-2-Infektion nicht nur häufiger zu langfristigen körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen kommt, sondern dass diese zudem länger anhalten als bei den bereits bekannten Infekten.
Nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin leiden bis zu 15 Prozent der COVID-19-Patienten noch viele Wochen nach der akuten Krankheitsphase unter verschiedenen Symptomen. Zwei Prozent der Betroffenen hat demnach sogar länger als zwölf Wochen mit Beschwerden zu kämpfen.
Long- oder Post-COVID?
Je nach Zeitraum, in dem die Gesundheitsprobleme fortbestehen, haben sich in der Fachwelt in Abgrenzung zur akuten SARS-CoV-2-Infektion die Begriffe Long-COVID- und Post-COVID-Syndrom etabliert.
- In der S1-Leitlinie Long-/Post-COVID der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sprechen die Experten der verschiedenen Fachgesellschaften von Long-COVID, wenn Symptome im Anschluss an eine SARS-CoV-2-Infektion über die akute Krankheitsphase von vier Wochen hinaus vorliegen.
- Klagen die Betroffenen noch nach zwölf Wochen über gesundheitliche Einschränkungen, die sich nicht anderweitig erklären lassen, wird dieser Zustand als Post-COVID-Syndrom definiert.
Sowohl bei Long- als auch Post-COVID können sich die Beschwerden entweder gleich der akuten Erkrankungsphase anschließen und längerfristig bestehen bleiben oder sie treten im Verlauf von Wochen und Monaten nach der Infektion neu auf. Zudem ist es möglich, dass die Symptome erst abklingen und später wiederkommen oder sich Beschwerden einer Vorerkrankung verschlimmern. Im Folgenden wird der Begriff Long-COVID verwendet, da somit der gesamte Zeitraum jenseits der akuten Krankheitsphase abdeckt wird.
Lernziele
Lernen Sie in dieser von der Bundesapothekerkammer akkreditierten Fortbildung unter anderem
+ häufige Langzeitfolgen (z. B. Fatigue, Kurzatmigkeit, neurokognitive Beeinträchtigungen, Riech- und Geschmacksstörungen) kennen,
+ wie sich Long-COVID und Post-COVID unterscheiden,
+ welche Hypothesen unter anderem zur Pathogenese diskutiert werden,
+ welche ausgewählten Forschungsaktivitäten aktuell in Deutschland existieren,
+ welche Behandlungsmöglichkeiten derzeit bestehen und
+ an welche Ansprechpartner sich Betroffene wenden können.
Viele offene Fragen zur Entwicklung der Krankheitsbilder
Bislang lässt sich nicht eindeutig voraussagen, wer nach einer SARS-CoV-2-Infektion Long-COVID entwickelt. Ob die Häufigkeit von Langzeitfolgen mit der Schwere der akuten SARS-CoV-2-Infektion korreliert, ist umstritten. Zwar lassen sich unter den Patienten, die einen schweren Krankheitsverlauf mit Krankenhausaufenthalt und/oder intensivmedizinischer Betreuung hatten, häufig organspezifische Langzeitfolgen beobachten. Aber auch bei einem milden Verlauf oder eine Infektion ohne Symptome sind Langzeitfolgen von COVID-19 möglich.
Ähnliche aber nicht identische Definitionen
In der Literatur finden sich uneinheitliche Begrifflichkeiten zu dem Phänomen der Langzeitfolgen nach einer akuten SARS-CoV-2-Infektion.
1. NICE-Definition
Nachdem in den sozialen Medien als erstes von „Long-COVID“ gesprochen wurde, griffen die im Oktober 2020 veröffentlichten Leitlinien des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) diesen „patientengemachten“ Begriff auf und grenzten ihn von der akuten COVID-19-Infektion ab. Demnach verstanden sie unter Long-COVID gesundheitliche Beschwerden, die jenseits der akuten Krankheitsphase einer SARS-CoV-2-Infektion von vier Wochen fortbestehen oder neu auftreten. Beschwerden, die nach mehr als zwölf Wochen nach Beginn der SARS-CoV-2-Infektion vorhanden sind und nicht anderweitig erklärt werden können, definierten sie als Post-COVID-Syndrom.
2. WHO-Definition
Die Weltgesundheitsorganisation WHO sprach Ende 2021 vom Post-COVID-19-Zustand. In ihrer vorläufigen Definition verstand sie darunter gesundheitliche Probleme, die in längerem Abstand (in der Regel drei Monate) nach der SARS-CoV-2-Infektion über längere Zeit (mindestens zwei Monate) fortbestehen und anderweitig nicht erklärbar sind.
3. Leitlinien-Definition
Die Definition zu Long-COVID/Post-COVID, die sich in der im Sommer 2021 veröffentlichten deutschen S1-Leitlinie zu „Long/Post-COVID“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) findet, ist, was die zeitliche Abgrenzung betrifft, in Anlehnung an NICE entstanden. Sie benennt jedoch als weitere mögliche Manifestation von Long-COVID/Post-COVID die Verschlechterung vorbestehender Grunderkrankungen.
Die Studienlage lässt vermuten, dass chronische und psychische Vorerkrankungen sowie Gesundheitsrisiken die Entstehung von Long-COVID begünstigen. So zählen beispielsweise
- Asthmatiker,
- Bluthochdruck-Patienten,
- Diabetiker und
- Fettleibige inzwischen zu den Risikogruppen.
Zudem scheinen Frauen insgesamt häufiger als Männer an Long-COVID zu erkranken. Abweichend davon wurde in Studien aber auch beobachtet, dass es nach einem schweren, teils intensivpflichtigen Verlauf besonders bei älteren (> 60 Jahre) Männern zu Long-COVID gekommen ist, während nach einem milden oder moderaten Krankheitsverlauf ohne Hospitalisierung überwiegend bei jüngeren (< 60 Jahre) Frauen gesundheitliche Langzeitfolgen auftraten.
Prinzipiell kann sich Long-COVID sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern entwickeln. Im Allgemeinen sind Jugendliche aber seltener als Erwachsene und Kinder noch seltener betroffen. Am häufigsten tritt Long-COVID in der Altersgruppe der 30- bis 50-Jährigen auf.
In Europa waren laut WHO in den vergangenen beiden Jahren 17 Millionen Menschen von Long-COVID-Symptomen betroffen.
Bislang ist auch noch nicht bekannt, wie lange die gesundheitlichen Beschwerden andauern. Die Studien zeigen zwar, dass sie sich bei vielen Patienten im Laufe der Zeit deutlich abschwächen oder es zur Spontanheilung kommt. Wenn die Beschwerden jedoch bestehen bleiben, ist es im Einzelfall nicht vorhersehbar, wie lange sie tatsächlich fortbestehen.
In Einzelfällen überdauern sie zwölf Monate. Vor allem wird bei Patienten, die im Krankenhaus behandelt und beatmet wurden, über länger fortwährende Beschwerden berichtet. Allerdings geht man davon aus, dass hier auch die Folgen der intensivmedizinischen Versorgung eine Rolle spielen.
Hypothesen zur Pathogenese
Ebenso herrscht noch Aufklärungsbedarf über die genauen Ursachen für Long-COVID. Verschiedene Mechanismen werden von den Experten diskutiert. Unklar ist noch vieles. Einig ist man sich, dass die Pathogenese multifaktoriell und nicht bei allen Patienten gleich zu sein scheint. Auch können möglicherweise mehrere Pathomechanismen zugleich beteiligt sein.
Eine Theorie besagt, dass bei einigen Patienten Viren oder zumindest Fragmente von ihnen wochen- oder monatelang im Körper verbleiben (Viruspersistenz). Auch wenn sie nicht mehr nachweisbar sind, rufen sie dennoch noch lange nach der ursprünglichen Infektion Symptome hervor.
Zudem wird die These vertreten, dass bei dem Geschehen eine aus dem Ruder gelaufene Immunreaktion des Körpers mit überschießenden Entzündungsreaktionen eine zentrale Rolle spielt. Dabei sollen die im Rahmen der angeborenen Immunantwort massenhaft ausgeschütteten Zytokine („Zytokinsturm“) an verschiedenen Organen im ganzen Organismus Schäden (z. B. Herz-Kreislauf-Probleme, Herz-, Lungen-, Nierenschäden) verursachen.
Diese Proteine werden immer zur Abwehr gebildet, bei einer SARS-CoV-2-Infektion können sie aber unter bestimmten Umständen in zu großer Anzahl freigesetzt werden. Folge ist eine hyperinflammatorische Immunantwort, die eine überschießende Entzündungsreaktion im gesamten Organismus auslöst, was mit einer Schädigung von körpereigenem Gewebe einhergeht.
So kann es bei einigen Long-COVID-Patienten beispielsweise zu einer Entzündung um die Auskleidung des Herzens (Perikarditis) und der Lunge (Pleuritis) herum kommen. Zugleich wird durch die erhöhten Mengen an Zytokinen eine Fibrinproduktion ausgelöst, was die Bildung von Blutgerinnseln begünstigt. Die Mikrothromben werden mit Gerinnungsstörungen und einer gestörten Sauerstoffzufuhr im Gewebe (z. B. im Muskel, Lunge) in Zusammenhang gebracht.
Beide Phänomene – postinfektiöse, persistierende Gewebeschädigungen sowie Gerinnungsstörungen – sollen daher nicht nur für besonders schwere Krankheitsverläufe, sondern auch für Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion verantwortlich sein.
Bei Long-COVID wird auch von einer Ausschlussdiagnose gesprochen, da bislang noch kein Biomarker zum Nachweis der Erkrankung gefunden wurde.
Zudem wurden bei einem Teil der Long-COVID-Patienten Auto-Antikörper nachgewiesen, die vom Organismus während der akuten SARS-CoV-2-Infektion gebildet wurden. Sie sollen eine Immundysregulation im Sinne einer Autoimmunität bedingen, die anhaltende Entzündungsreaktionen im Gehirn, Rückenmark und an peripheren Nerven hervorrufen. Weiterer möglicher Erklärungsansatz ist eine Reaktivierung von im Körper überdauernden Viren wie das Epstein-Barr- oder das Cytomegalievirus. Auch dafür ließen sich experimentelle Belege finden.
Darüber hinaus haben sich noch Hinweise auf eine Dysregulation des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) sowie auf Störungen im Nervensystem und hormonelle Veränderungen ergeben.
Eigenständige Erkrankung
Trotz vieler offener Fragen hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass es sich bei Long-COVID um ein neues Krankheitsbild handelt. Die Betroffenen gelten zwar nach durchgemachter SARS-CoV-2-Infektion offiziell als genesen, dennoch sind sie nicht gesund. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Langzeitfolgen bereits am 6. Oktober 2021 offiziell als Erkrankung definiert.
45 Prozent der Long-COVID-Erkrankten sind auch nach über sechs Monaten nicht in der Lage, in Vollzeit zu arbeiten. 20 Prozent sind sogar arbeitsunfähig.
Sie stellte eine erste Fallbeschreibung vor, die sie als Post-COVID-19-Erkrankung bezeichnete. Damit beschrieb sie einen Krankheitszustand, der von ausgeprägter physischer und kognitiver Belastungsintoleranz gekennzeichnet ist. Die Betroffenen sind dabei nicht mehr in der Lage, in gewohntem Umfang ihren Berufs- und Alltagstätigkeiten nachzugehen, ohne dass sich ihr Gesundheitszustand dadurch langfristig verschlechtert. Das bestätigen auch Studienergebnisse.