Kolumne | Prof. Dr. Aglaja Stirn
SOZIALE DISTANZIERUNG
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Ein Mensch, der sozial isoliert ist, stirbt oder trägt zumindest starke Schäden davon. Wir alle kennen das Beispiel von Kaspar Hauser. Es zeigt uns, dass der Mensch Nähe, Berührungen und soziale Kontakte braucht - wir sind soziale Wesen, die durch Interaktionen, Gespräche, Austausch von Gefühlen und Nähe leben. Das Verorten des Selbst braucht immer das Fremde, das Du. Was heißt es nun für uns, dass wir uns sozial distanzieren sollen? Ein seltsamer Ausdruck, der aktuell dafür steht, dass wir 1,50 Meter Abstand zum Mitmenschen halten und maskiert herumlaufen sollen. Das bedeutet, mit einem halb verdeckten Gesicht, sodass unsere Mimik vom Gegenüber nicht mehr zu entziffern ist, und wir auch sprachlich nicht mehr leicht zu verstehen sind.
Wir sollen zu Hause bleiben und uns auf ein paar wenige Kontakte beschränken, uns nicht in größeren Gruppen treffen. Hinzu kommt, dass wir uns auch nicht mehr berühren sollen. Das alles, weil der andere ein potenzieller Virenträger sein könnte und somit zur potenziellen Gefahr, zum potenziellen Feind würde. Soziale Distanzierung heißt, dass wir uns zurückziehen in unsere vier Wände. Die bisweilen teilweise verpönten digitalen Medien sind jetzt unser Zugang zu anderen Menschen – unser einziger sicherer Zugang. Um nicht der Einsamkeit zu verfallen, müssen wir uns virtuell verbinden. Jedoch gilt hier auch die Dialektik der Nähe.
Die veränderte Welt ist eine Chance für die Psyche.
Gerade dadurch, dass der Andere nicht da ist, kann man Nähe aufbauen. Durch die Ferne kann er besonders nah werden, wie man auch einem Fremden im Zug manchmal Intimeres erzählt als dem Ehemann oder man sich in einer WhatsApp-Nachricht mehr getraut zu sagen, als man es persönlich tun würde. Soziale Isolation heißt auch, dass viele nicht ihrem strukturierten Alltag, dem Studium, der Arbeit und ihren Hobbys nachgehen können. Auch Angst ist mit an Bord, teils existentieller Art. Angst, sich mit dem Virus zu infizieren und ihm vielleicht körperlich zu erliegen oder Familienmitglieder anzustecken, Angst, seinen Job zu verlieren.
Das kann eine große Belastung sein, eine Psyche mürbe machen. Wir sind jetzt gefordert, ein großes Maß an Selbstkompetenz und Selbstverantwortung zu entwickeln und mit unseren Ängsten umzugehen. Es gibt wenig Wahl – etwas, das wir tun können ist allerdings, auch die Chancen zu sehen, die wir damit bekommen. Es kann etwas Kreatives und Solidarisches aus dieser Situation entstehen. Man nimmt vielleicht wieder mehr Nähe zu den Menschen auf, die in der unmittelbaren Umgebung sind, oder verbindet sich virtuell mit Menschen, die man noch gar nicht so richtig kennt.
Vielleicht lernt man sich jetzt noch besser kennen in seiner Beziehung oder man klärt die Beziehung und weiß um das Trennende. Die veränderte Welt ist eine Chance für die Psyche, eine Chance für Solidarität, Empathie, innere Sammlung und auch eine Chance, sich mit Dingen auseinanderzusetzen, zu denen zuvor weder Zeit noch Raum bestand. Vielleicht nutzen Sie die Zeit der Verlangsamung um sich neu zu orientieren. Nutzen Sie die Krise als Chance, um über das eine oder andere nachzudenken und zu sehen wie es nach der Quarantäne weitergeht.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 06/2020 auf Seite 12.
Zur Person
Professor Dr. Aglaja Stirn ist Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Gruppentherapie, Psychoanalyse und Sexualtherapie an der Universität Kiel, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP.
www.zip-kiel.de