Medizingeschichten | Geburt
DAS ERSTE RETORTENBABY DER WELT WIRD GEBOREN
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Der Physiologe Robert Geoffrey Edwards war einer dieser beinahe besessenen Forscher, die seit den späten sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zum Thema künstliche Befruchtung alles versuchten: Zusammen mit seinem Kompagnon, dem Gynäkologen Patrick Steptoe, experimentierte er mit Ei- und Samenzellen von Mäusen, Rindern, Affen und Hasen. Und schließlich auch mit denen von Menschen.
Lesley und John Brown waren eines dieser Ehepaare, die sich verzweifelt ein Kind wünschten. Neun Jahre probierten sie, eines zu bekommen – um dann zu erfahren, dass Lesley Brown auf natürlichem Wege niemals in der Lage sein würde, ein Kind zu empfangen; ihre Eileiter waren nicht durchgängig. Die junge Frau versank in Depressionen, der Ehemann wusste keinen Rat mehr. Als er im Fußball-Toto 800 Pfund gewonnen hatte, schlug er Lesley vor, das Geld in die Wissenschaft zu investieren.
Sie begaben sich in die Hände von Edwards und Steptoe, die ein Verfahren entwickelt hatten, in dem eine menschliche Eizelle außerhalb des Mutterleibs erfolgreich mit einer Samenzelle zusammengeführt werden konnte. Sechzig Mal hatten sie es bereits probiert – und sechzig Mal wurde die eingepflanzte Eizelle wieder abgestoßen.
Durch Zufall an die Öffentlichkeit gelangt
Anders als bei all den anderen Patientinnen starb der Embryo im Leib von Lesley Brown nicht ab, sondern entwickelte sich prächtig – Tag für Tag, Woche für Woche. „Bis sie bereits ein paar Monate schwanger war, wusste sie überhaupt nicht, dass die Methode komplett neu war und noch nie zuvor funktioniert hatte“, sollte die Tochter später erzählen. Die werdenden Eltern waren außer sich vor Freude. Und so geschah es, dass John Brown eines Abends in den Pub ging und seinen Kumpels von seinem Glück erzählte. Pech für ihn, dass am Tresen ein Journalist saß, der die Ohren spitzte. Er witterte zu Recht die Story seines Lebens – und ein paar Tage später brach die Hölle über Lesley Brown herein. „Keine ruhige Minute hatte sie mehr, überall lauerte ihr die Presse auf“, erinnert sich Edwards.
Verborgen vor den Paparazzi
So sehr setzte man der Frau zu, dass sie während der späten Schwangerschaft vom Gynäkologen Steptoe an einen unbekannten Ort verbracht wurde. Der befand sich bei dessen Tochter in Suffolk; etwas, das selbst die findigen Reporter nicht spitzbekamen. Sechs Wochen vor der Geburt holte man die Frau dann unter falschem Namen in die Klinik, in der sie später entbinden sollte. Dort erblickte ein strammes, blondes und blauäugiges, kerngesundes Mädchen das Licht der Welt: Louise Joy.
Harsche Kritik am Retortenbaby
Nicht überall waren die Reaktionen wohlwollend: Als „Werk des Teufels“ bezeichnete es etwa die katholische Kirche, als „moralisch falsch“ der Erzbischof von Canterbury. Edwards und Steptoe fühlten sich davon nicht attackiert. Sie gründeten eine Privatklinik für Reproduktionsmedizin, die bald Kultstatus erlangen sollte. Die finanzielle Starthilfe dazu stammte aus dem Verkauf der Geschichte um den ersten Menschen, der in einer Petrischale entstanden ist und von einer Frau geboren wurde.
Bis 1986 erzeugten die beiden Ärzte rund 530 weitere Retortenbabys – darunter auch eine kleine Schwester für Louise. Letztere möchte mit dem ganzen Rummel um ihre Person nichts zu tun haben und gibt nur ungern Interviews: „Ich habe nichts Aufregendes zu erzählen“, sagt sie. Bekannt ist nur, dass Louise Brown 2004 geheiratet hat und danach zwei Söhne bekam – auf vollkommen natürliche Weise.
Quellen:
https://www.spiegel.de/geschichte/30-jahre-retortenbabys-a-947143.html
https://www.abendblatt.de/nachrichten/article214918499/Das-erste-Retortenbaby-wird-40Das-erste-Retortenbaby-wird-40.html