Eine Frau mit Jeansjacke und roten Lippen schaut in die Ferne. Hinter ihr sieht man das Meer.© Tamer Dagas / iStock / Getty Images Plus
Allein zu sein kann sich als Anfang einer neuen Lebensqualität darstellen.

Kontaktlosigkeit

MUT ZUM ALLEINSEIN

„Der Mensch ist ein soziales Wesen.“ Aristoteles, auf den der Satz zurückgeht, hat lange Abhandlungen zu diesem Thema verfasst. Seitdem haben sich Unmengen Soziologen, Psychologen und Politologen Gedanken dazu gemacht.

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Mit „sozial“ beschreiben wir den Zustand, wenn Menschen in Gesellschaft oder/und Staat zusammenleben, sich also einer Gruppe zugehörig fühlen. Auch die Eigenschaft, sich auf andere Menschen konzentrieren zu können, sich für andere einzusetzen, subsumieren wir unter diesen Begriff.

Das heißt, wir fühlen uns in der Gruppe aufgehoben, anerkannt und somit wohl. Wie verhält es sich jedoch mit dem Zustand, in dem man ganz für sich, auf sich allein gestellt ist? Fühlen wir uns dann schlecht? Sind wir dann automatisch einsam?

Was bedeutet „einsam“?

Der Begriff „Einsamkeit“ löst bei den meisten Menschen Unbehagen aus, assoziiert man damit doch, dass man niemanden hat, mit dem man sich austauschen kann, der für einen da ist, der einen liebt – man gehört nirgendwo dazu. Geht man auf den Ursprung des Wortes zurück, lernt man Erstaunliches: Das Suffix „-sam“ hat seinen Ursprung in der indogermanischen Sprache mit der Bedeutung „einheitlich“, „eins“, wurde von den Brüdern Grimm als Adverb in ihrem Wörterbuch mit der Bedeutung „gleichwie“, „als ob“ aufgeführt, erfuhr im Althochdeutschen eine Ergänzung zum „wie“ und mutierte im Mittelhochdeutschen zu einer Konjunktion mit der Bedeutung „zusammen mit“.

Im Laufe der Zeit reduzierte sich seine Bedeutung in der Zusammensetzung mit anderen Wörtern auf „ebenso“, „in gleicher Weise“, „löblich“ und mutierte allmählich zu einer Nachsilbe, womit das Wort „einsam“ so viel bedeuten würde wie „Vom Alleinsein erfüllt“. Mit diesem kurzen Abriss erschließt sich, dass sich ein einsamer Mensch eigentlich wohlfühlen könnte.

Oder bedeutet es, dass dieser Mensch sich zu hundert Prozent allein fühlt. Mit unserem heutigen Sprachverständnis ist „einsam“ die Bezeichnung für einen nicht wünschenswerten Zustand des Alleinseins, der meist von Traurigkeit, Depression und Kontaktlosigkeit geprägt ist. Wenden wir uns also dem Thema „Allein sein“ und der Wirkung dieses Zustandes zu.

Gemeinschaft und Freunde

Seit grauer Vorzeit leben Menschen in übersichtlichen sozialen Gemeinschaften. In der Steinzeit in Familienverbänden in Höhlen, später in kleinen Ansiedlungen, die auf familiären oder sozialen Verbindungen fußten. Irgendwann kamen Orte, Städte und schließlich das Extrem: Megacitys.

Menschen haben sich im Laufe der Zeit immer mehr „zusammengerottet“, sie suchten in Städten Schutz und Arbeit, und die privaten Lebensräume verkleinerten sich zusehends. Viele Menschen leben in Großstädten in winzigen Behausungen, die gerade mal den nötigsten Komfort erlauben. Von Luxus oder gar individueller Entfaltung kann wahrlich keine Rede sein. Das sind die Extreme des Zusammenlebens.

Tagtäglich haben viele von uns Kontakt zu vielen bis zu Hunderten Menschen, wir treffen Freunde und erleben in Job und Freizeit permanente Reizüberflutung – erst recht im Zeitalter digitaler Kommunikation und sozialer Medien. Wir haben auf Facebook, Tinder, Twitter und Co. unzählige, noch nie gesehene „Freunde“, mit denen wir 24/7 in Kontakt stehen.

Nachrichten strömen auf uns ein, alle Einflüsse müssen sekundengleich aufgenommen, verarbeitet, bewertet und beantwortet werden. Das sind die Zeichen der Zeit und für zahllose Menschen von fundamentaler Bedeutung.

„Durch Facebook, Twitter, Instagram, Tinder und Co. ist eine neue Art der Verbindung entstanden“.

Stop! Bitte Ruhe!

Sehr viel kann ganz schnell zu viel sein. Die Wissenschaft weist auf die Notwendigkeit hin, wissen zu müssen, mit wem wir es im Leben in persona zu tun haben, sich auf die verlassen zu können, die wir als zu uns gehörig empfinden. Es geht darum, dass wir qualitative und nicht nur quantitative Beziehungen für unser Seelenleben und Wohlbefinden brauchen.

Das Leben fordert uns, wir müssen uns im Berufsleben beweisen, jeden Tag Anforderungen genügen, immer wieder unseren Beziehungsstatus hinterfragen und Kompromisse eingehen. Wie schaffen wir das? Nun, der Mensch ist adaptionsfähig, kann sich auf Situationen einstellen und seine Möglichkeiten und Fähigkeiten je nach Anforderung ausbauen.

Ebenso kann er sich an eine Situation anpassen, in der er mit niemandem Kontakt hat, in der er auf sich allein gestellt ist – und das freiwillig und zu seinem seelischen Nutzen. Er kann sich entscheiden, ob er eine Pause einlegt, um seine Akkus aufzuladen, oder ob er sich für einen Zeitraum entscheidet, der durch Alleinsein gekennzeichnet ist. Der eine kann das sehr gut – Eremiten sind das beste Beispiel –, der andere bekommt nach kurzer Zeit einen „Lagerkoller“ und wird depressiv.

„Im Alleinsein liegt auch eine Chance. Und zwar die, tief in sich hineinzuhören, sich mit sich selbst kritisch auseinanderzusetzen“.

Der eigene neue Weg

Haben wir die Möglichkeit, uns in aller Ruhe eine gewisse Zeitlang über unsere Ziele, Vorstellungen, Vorlieben, Träume, Möglichkeiten und Fähigkeiten intensive Gedanken zu machen, dann kann das tatsächlich zu Entscheidungen führen, die mit dem bisherigen Leben nichts oder nur wenig zu tun haben.

Vielleicht sind es auch nur geringe Richtungskorrekturen, aber auch die tun uns gut, da wir uns in unsere ganz eigene, zutiefst persönliche Richtung bewegen und unseren innersten Bedürfnissen Raum geben. Wie oft befindet sich der Mensch in Situationen, in die er aufgrund von Job, Gesundheit und sozialer Kontakte hineingeraten ist. Er macht sich keine weiteren Gedanken darüber, sondern akzeptiert sie als „Ist nun mal so“.

Erst im Moment des Alleinseins ohne Ablenkung und situationsbedingter Anforderungen wird er sich darüber klar, dass der Job, der Partner, die Lebenssituation möglicherweise doch nicht die perfekte Lösung ist. Es können sich ganz neue Perspektiven eröffnen, mit denen man zuvor nicht gerechnet hat.

Allein sein oder zu zweit einsam werden

Auch im Hinblick auf die eigene Partnerschaft macht zwischendurch ein Kassensturz der Gefühle Sinn. Ständige räumliche Zweisamkeit kann zu einer deprimierenden emotionalen Einsamkeit führen. Es gibt kaum die Möglichkeit, sich seiner Gefühle für die andere Person bewusst zu werden. Alltägliches und Aufgestautes verhindern einen objektiven Blick auf die eigene Gefühlswelt.

Sind Kinder im Spiel, verlieren sehr viele Menschen komplett den Blick auf die eigenen, individuellen Wünsche und Sehnsüchte. Leider werden die Versuche eines Partners, sich mal eine – Vorsicht, böses Beziehungswort – Auszeit zu nehmen, selten als Möglichkeit gewertet, sich über die eigenen Fehler, Bedürfnisse, Hoffnungen klar zu werden.

Ein skeptischer Partner stuft das Verlangen seiner Frau, einmal eine Woche ganz allein in die Berge zu reisen, meist als Bedrohung ein. Dabei können doch beide diese Woche nutzen, um Licht in das entstandene Dunkel zu bringen. Anschließende Gespräche ohne persönliche Animositäten können neue Grundlagen für eine zufriedenere Gemeinschaft bilden.

Achtsamkeit und Selbstzuwendung

Jeder Mensch hat Verantwortung für sich. Dieser sollte er durch entsprechende Maßnahmen im Hinblick auf Seelenhygiene, emotionale Ausgeglichenheit bis hin zum Glück möglichst jederzeit, zumindest aber immer wieder nachkommen. Das Alleinsein schafft die besten Voraussetzungen, sich losgelöst von allem Gewohnten ehrlich mit sich selbst zu befassen und in diesem Zeitfenster die Möglichkeiten der Selbstzuwendung zu nutzen. Ehrlich deshalb, weil man natürlich aufpassen muss, nicht in Egoismus und Egozentrik abzurutschen. Also, nur Mut! Allein zu sein kann sich als Anfang einer neuen Lebensqualität darstellen.

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