Präsenztherapie
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Mal angenommen, die Corona-Pandemie wäre vorbei. Sie tanzen auf dem ersten Konzert Ihrer Lieblingsband. Es ist dunkel, Scheinwerferlichter hüpfen über die Menge. Dann kommt der beste Song. Für einen Moment steht die Zeit still – plötzlich bricht Jubel aus. Wie fühlt sich das an? Anders als ein Streaming-Konzert. Dr. Karsten Wolf, Psychiater und Psychotherapeut, leitet die Akutklinik Schloss Gracht. Dort behandelt er Patienten mit der von ihm entwickelten Präsenztherapie.
Präsenz ist laut Dr. Wolf das Gegenteil von Nachdenken, wir nehmen sie mit den Sinnen wahr. Diese Körperlichkeit sei essenziell: „Das merken wir jetzt in der Corona-Krise. Die Distanz zeigt uns, was da fehlt.“ Und gerade das fehle auch psychisch Erkrankten. „Der Depressive ist auf der reinen Verstandesebene“, berichtet er; er grübele zu viel. Dem stellt die Therapie Präsenz entgegen, um ein Gleichgewicht herzustellen.
Komplett durchdacht Der gesamte Klinikaufenthalt soll Präsenz vermitteln, schon bei der Aufnahme. Statt über eine Rezeptionstheke hinweg melden die Patienten sich in gemütlichen Sesseln an. Für Dr. Wolfs Mitarbeiter ist das herausfordernd, berichtet er: „Es wäre leichter, sich zurückzuziehen, stattdessen gehen sie immer auf den Patienten zu.“ Das Team ist darauf geschult. Auch die Architektur des Schlosses fördert Präsenzmomente mit allen Sinnen. Eine Interior-Designerin setzte sich intensiv mit Präsenz, Farben und Materialien auseinander. Verband das historische Denkmal mit modernen Elementen, unterstützt durch eine ganzheitliche Lichttechnik. Die Zimmer ähneln eher einem Hotel als einem Krankenhaus.
Präsenz in der Therapie Die Therapeuten auf Schloss Gracht suchen gemeinsam mit den Patienten nach früheren Präsenzerlebnissen - einem Stadionbesuch, einem Flow beim Mountainbiken. Dann stellen sie neue Präsenzmomente her. So erkennt der Patient diese und kann sie zulassen. Gut gelingt das in der Sporttherapie, hier steht der Körper ohnehin im Fokus. Die Therapeuten messen nicht nur Puls und Zeit. Der Patient lernt zu spüren, wann die Bewegung sich gut anfühlt. Und Pausen legt er im Wald ein, in Kontakt zur Natur.
Wie geht es weiter? Schloss Gracht beherbergt bis zu 84 Privatversicherte und Selbstzahler. Dr. Wolf will gesetzlichen Krankenkassen jedoch zeigen, dass die präsenzorientierte Erstbehandlung nur am Anfang teurer ist: „Am Ende spart sie sehr viel Leid und Geld.“ Dies stützen die Studien, die er gemeinsam mit mehreren Universitäten erhebt. Seine Vision: „Eine Reihe von Kliniken, die sowohl Privatpatienten als auch gesetzlich Versicherte aufnehmen. Und wir wollen alle Störungsbereiche abdecken.“ Einen Teil hat er schon erreicht: Ende des Jahres eröffnen weitere Kliniken, eine für Suchtpatienten und eine mit einer Jugendlichen-Station.
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2021 auf Seite 98.
Mehr über Präsenz, Schloss Gracht und die Präsenztherapie lesen Sie im Interview mit Dr. Wolf.