Frau sitzt in Schraubglas © SIphotography / iStock / Getty Images
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Asperger-Syndrom

ANDERS ALS DIE ANDEREN

Sie sind intelligent, doch kaum in der Lage, sich in andere hineinzuversetzen: Menschen mit Asperger-Syndrom geraten im Alltag oft an ihre Grenzen. Eine frühzeitige Diagnose kann das Leben mit der Entwicklungsstörung erleichtern.

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Rechengenie, Musikvirtuose, Superhirn mit fotografischem Gedächtnis – verbreitet ist die Ansicht, Menschen mit Asperger-Syndrom seien hochbegabte Eigenbrötler. Filme, wie der berühmte Kinoklassiker „Rain Man“ oder die liebenswerte Fernsehkomödie „Ein Schnitzel für alle“ haben die Vorstellung vom zwanghaft-kauzigen, aber hochbegabten Asperger-Autisten geprägt.

Doch die Realität sieht anders aus: Zwar gibt es durchaus Menschen mit Asperger-Syndrom, die eine erstaunliche Inselbegabung oder ein herausragendes Wissen auf einem Spezialgebiet haben, doch verfügen die meisten über eine normal allgemeine, in Teilgebieten hohe Intelligenz. Typisch sind zudem sehr gute sprachliche Fähigkeiten und ein großer Wortschatz. Was die kognitiven Fähigkeiten angeht, unterscheiden sich Menschen mit Asperger-Syndrom also nicht unbedingt von ihren Mitmenschen – sehr wohl jedoch bezüglich der sozialen Fähigkeiten.

Hohe Intelligenz, geringe Empathie Auffälligkeiten zeigen sich in der sozialen Interaktion. Konkret bedeutet das: Wer mit Asperger-Syndrom lebt, hat typischerweise ein geringes Einfühlungsvermögen, kann Gesten, Mimik und Tonlage des Gegenübers nicht richtig interpretieren, dessen Gefühle nicht deuten. Zwischentöne, Humor und Ironie sind für Menschen mit Asperger-Syndrom ein Buch mit sieben Siegeln. Viele sehen ihren Mitmenschen ungern in die Augen und vermeiden Körperkontakt – etwa Händeschütteln oder Umarmungen zur Begrüßung.

Weil sie Stimmungen und Reaktionen ihrer Mitmenschen nicht richtig deuten können, fällt es ihnen oft schwer, angemessen zu reagieren. Kontakte knüpfen, enge Freundschaften schließen, in einer Partnerschaft leben: Was für die meisten von uns selbstverständlich klingt, ist für Menschen mit Asperger-Autismus oft nur unter größter Anstrengung möglich, mitunter sogar aussichtslos.

Komplexe Entwicklungsstörung Das Asperger-Syndrom ist, wie alle Autismus-​Spektrum-Störungen, eine neurologische Entwicklungsstörung. Vorsichtigen Schätzungen zufolge sind etwa 2 von 1000 Menschen davon betroffen. Männer leben offiziellen Statistiken zufolge wesentlich häufiger damit als Frauen. Jedoch: Experten vermuten, dass sich Frauen besser „tarnen“ und ihre Symptome so gut überspielen können, dass ihre Störung häufig unentdeckt bleibt. Die genauen Ursachen des Asperger-Syndroms sind noch unklar. Bekannt ist allerdings, dass die Gene bei der Entstehung eine Rolle spielen – in einigen Familien tritt die Entwicklungsstörung gehäuft auf.

Bildgebende Diagnoseverfahren haben zudem gezeigt, dass es Unterschiede im Gehirn gibt: So weisen bei Menschen mit Asperger-Syndrom bestimmte Bereiche des präfrontalen Cortex, die für die Empathie wichtig sind, eine verminderte Aktivität auf. Und auch in der Mandelkernregion (Amygdala), die als Teil des limbischen Systems an der Verarbeitung emotionaler Prozesse beteiligt ist, zeigen sich bei Menschen mit Asperger-Autismus Auffälligkeiten. Weil sich Sprache und kognitive Fähigkeiten ganz normal entwickeln, bleibt das Asperger-Syndrom in den ersten Lebensjahren meist unentdeckt.

Mitunter liefert jedoch eine verzögerte motorische Entwicklung erste Hinweise – die Kinder wirken oft ungeschickt und tollpatschig. Deutlich sichtbar wird die verzögerte soziale Reife meist im Kindergarten- oder Schulalter – nämlich dann, wenn sich das Kind sozial integrieren muss. Erzieher, Lehrer und Eltern bemerken jetzt oft auch andere Auffälligkeiten: Trotz eines ausgeprägten Wortschatzes haben Kinder mit Asperger-Syndrom typischerweise Schwierigkeiten, mit ihren Mitmenschen zu kommunizieren, Freundschaften mit Gleichaltrigen zu schließen und sich an allgemeingültige soziale Regeln zu halten.

Autismus-Spektrum-Störungen: Was ist was?

Frühkindlicher Autismus (Kanner-Syndrom): Die tiefgreifende, komplexe Entwicklungsstörung tritt vor dem dritten Lebensjahr auf. Geprägt wird sie von gestörter sozialer Interaktion, beeinträchtigter Kommunikation und Sprache sowie wiederholten, stereotypen Verhaltensweisen und Interessen. Viele Menschen mit dieser Autismus-Spektrum-Störung sind zudem geistig behindert und brauchen lebenslang Unterstützung. Asperger Autismus: Die Symptome sind erheblich schwächer ausgeprägt als beim Kanner-Syndrom, Betroffene haben eine normale Intelligenz, auf speziellen Gebieten oft sogar eine hohe. Das Asperger-Syndrom wird auch als „milder Autismus“ bezeichnet. Atypischer Autismus: Wie der Name bereits andeutet, entspricht hier entweder der zeitliche Ablauf nicht dem des Frühkindlichen Autismus, das heißt, erste Symptome sind erst ab dem dritten Lebensjahr feststellbar, oder das Vollbild der Symptomatik des Frühkindlichen Autismus ist nicht nachweisbar. Rett-Syndrom: Bei dieser tiefgreifenden Entwicklungsstörung, die nur Mädchen betrifft, wird Erlerntes schon im frühen Kindesalter wieder vergessen. Folge ist ein Verlust der Sprache und der Gebrauchsfähigkeit der Hände.

Seltsame Interessen Die Kinder sind in der Regel introvertiert und entwickeln im Schulalter sehr häufig außergewöhnliche, sehr spezielle Interessen. Möglich beispielsweise, dass sie eine wie besessene Wissbegier an Mathematik, Technik, Lesen oder Teilgebieten von Geschichte oder Geografie zeigen. Kinder mit Asperger-Autismus wollen dann alles über „ihr“ Themengebiet wissen und tendieren dazu, das Gespräch darauf zu lenken. Mitunter versuchen sie auch, über diese Sonderinteressen Kontakt zu anderen Menschen aufzunehmen. Weil sich Menschen mit Asperger-Syndrom im Laufe der Zeit sehr viel Fachwissen aneignen können, werden sie oft zu ausgewiesenen Spezialisten in ihrem Gebiet.

Doch können sie ihr Fachwissen nicht in einen Gesamtzusammenhang einbetten – und es somit häufig auch nicht sinnvoll nutzen. Trotz ihrer beachtlichen kognitiven Fähigkeiten haben es Menschen mit Asperger-Syndrom oft sehr schwer im Leben: Weil sie die Welt anders wahrnehmen als ihre Mitmenschen, sich nicht in die Gefühle anderer hineinversetzen können, bei alltäglicher Konversation scheitern und einfache Regeln des sozialen Miteinanders nicht beherrschen, erleiden sie in der Schule, im Beruf und im Privatleben oft Schiffbruch. Ein Leben in sozialer Isolation und Depressionen können die Folgen sein.

Besser klarkommen Eine frühzeitige Diagnose im Kindesalter und eine gezielte Behandlung helfen Menschen mit Asperger-Syndrom, sich besser in der Welt zu orientieren. Die Entwicklungsstörung ist nicht heilbar, jedoch können die Symptome soweit gelindert werden, dass ein selbstständiges Leben möglich ist. Zur Behandlung gehören – falls erforderlich – verhaltenstherapeutische Maßnahmen, die darauf abzielen, Stärken und Fähigkeiten zu fördern und soziale Defizite zu verringern. Kinder mit Asperger-Syndrom lernen zum Beispiel, sich sozialen Situationen anzupassen und Gefühle anderer besser einzuschätzen. Dank ihrer hohen Intelligenz können Menschen mit Asperger-Syndrom ihre Auffälligkeiten oft gut kompensieren.

Grundlegende Besonderheiten wie eingeschränkte Kontaktfähigkeit, Fokussierung auf außergewöhnliche Interessen und Vorlieben für regelmäßige Abläufe und starre Tagesgewohnheiten bleiben jedoch lebenslang bestehen. Damit Menschen mit Asperger-Syndrom besser im Leben klarkommen und sich – so wie sie sind – akzeptiert fühlen, ist natürlich auch das soziale Umfeld gefordert. Ob Eltern, Lehrer, Freunde, Partner oder Kollegen: Informierte und verständnisvolle Mitmenschen, die wissen, in welchen Bereichen ein Asperger-Autist anders tickt und weshalb er manchmal „merkwürdig“ reagiert, sind unersetzlich für ein gutes, respektvolles Miteinander.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 07/18 ab Seite 106.

Andrea Neuen, Freie Journalistin

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