Krebserkrankungen
WENN DAS KNOCHENMARK GEKAPERT WIRD
Seite 1/1 4 Minuten
Der Begriff Leukämie entstammt den griechischen Wörtern „leukós“ (weiß) und „haima“ (Blut), und bedeutet daher so viel wie „Weißblütigkeit“. Genau betrachtet ist Leukämie kein Blutkrebs, sondern ein Krebs des blutbildenden Systems, das aus Stammzellen im Knochenmark hervorgeht. Ursache der Erkrankung sind unterschiedliche Veränderungen im Erbgut noch unreifer, nicht funktionstüchtiger Vorläufer von Blutzellen (Blasten), aus denen eigentlich rote oder weiße Blutkörperchen (Erythrozyten, Leukozyten) bzw. Blutplättchen (Thrombozyten) entstehen sollten. Durch die Mutation entwickeln sich die Blasten aber nicht weiter, sondern vermehren sich ungehemmt im Knochenmark, wo sie die normalen blutbildenden Zellen mehr und mehr verdrängen.
So werden zunächst das Knochenmark und später auch das periphere Blut mit nutzlosen Blasten überschwemmt, während von den funktionstüchtigen Blutkörperchen immer weniger vorhanden sind. Der Mangel an sauerstofftransportierenden Erythrozyten (Anämie) führt dann früher oder später zu Schwäche und Atemnot, während die geringere Zahl an Leukozyten und Thrombozyten das Risiko für Infektionen bzw. Blutungen steigert. Zudem können sich die Blasten auch in der Haut, den Lymphknoten oder dem zentralen Nervensystem ansammeln und dort Symptome verursachen.
Drei Hauptformen der Leukämie Täglich werden im Knochenmark Milliarden unterschiedlicher Blutzellen produziert und in den Blutkreislauf abgegeben. Dabei entstehen aus einer pluripotenten Stammzelle zuerst myeloische und lymphatische Vorläuferzellen. Aus myeloischen Vorläuferzellen entwickeln sich über mehrere Differenzierungsschritte hinweg Erythrozyten, Thrombozyten sowie die zu den Leukozyten zählenden Granulozyten und Monozyten. Aus lymphatischen Vorläuferzellen entstehen hingegen andere weiße Blutkörperchen, die Lymphozyten, B-Zellen, T-Zellen und natürliche Killerzellen umfassen.
Je nachdem, aus welchen Vorläuferzellen die Blasten stammen, unterscheidet man zwischen einer myeloischen oder einer lymphatischen Leukämie. Diese können zudem chronisch oder akut verlaufen, so dass sich drei Hauptgruppen ergeben: Die akute lymphatische Leukämie (ALL), die akute myeloische Leukämie (AML) und die chronische myeloische Leukämie (CML). Früher zählte auch die chronische lymphatische Leukämie (CLL) hinzu, die man heute aber den Non-Hodgkin-Lymphomen zuordnet. Vor allem die akuten Formen sind gefürchtet, denn sie entstehen sehr plötzlich und können unbehandelt innerhalb weniger Wochen zum Tod führen.
ALL und AML Die ALL ist mit rund 80 Prozent die häufigste Leukämieform bei Kindern, wobei meist Kinder unter fünf Jahren betroffen sind. Erwachsene erkranken meist erst ab dem 80. Lebensjahr und machen etwa die Hälfte der neuen Fälle aus. Mit etwa 800 jährlichen Erkrankungen ist die ALL hierzulande jedoch die seltenste Leukämie. Deutlich häufiger ist die AML mit einer Inzidenz von ca. 3600 Fällen, wobei an ihr vorwiegend Erwachsene ab dem 65. Lebensjahr erkranken. Bei Kindern tritt sie mit 15 bis 20 Prozent deutlich seltener auf. Während bei der ALL Lymphoblasten nicht ausreifen und sich unkontrolliert vermehren, sind es bei der AML Myeloblasten.
In der Folge kommt es bei beiden Leukämieformen zu ähnlichen Symptomen wie Nachtschweiß, Schwäche, Atemnot, Gelenkschmerzen, Entzündungen, Infektionen, Blutungen sowie Schwellungen von Milz und Lymphknoten. Ist das zentrale Nervensystem befallen, sind auch neurologische Ausfallerscheinungen möglich. Die Herausforderung bei den akuten Formen besteht darin, sie so früh wie möglich zu erkennen, damit man sie rasch behandeln und so Symptome und Prognose verbessern kann. Gesichert wird die Diagnose durch zytologische Blut- und Knochenmarksuntersuchungen. Um weitere Unterformen von ALL und AML zu differenzieren, werden zudem Untersuchungen auf Genmutationen und Chromosomen-Veränderungen sowie eine Immunphänotypisierung auf bestimmte Oberflächenantigene durchgeführt.
Die drei Phasen der CML Die CML ist mit rund 1700 Fällen die zweithäufigste Leukämieform hierzulande. Kennzeichnend ist eine überschießende Produktion von Granulozyten, die den Grenzwert von 10 000 Zellen/µl Blut um das 50-Fache übertreffen kann. Dadurch kann es neben den oben genannten Leukämie-Symptomen auch zu mechanischen Komplikationen wie etwa Gefäßverschlüssen kommen. Die CML entwickelt sich über eine oft Jahre andauernde chronische Phase und eine Akzelerationsphase zu einer rasch fortschreitenden Blastenkrise. Heutzutage wird die Diagnose meist schon in der chronischen Phase gestellt, da die vergrößerte Milz zu auffälligen Druckbeschwerden im linken Oberbauch führen kann. In späteren Phasen ist die Therapie schwieriger, da die Blastenkrise dann ähnlich gefährlich ist wie eine akute Leukämie.
Herkömmliche Therapien mit gutem Erfolg Die Behandlung von ALL und AML beruht nach wie vor im Wesentlichen auf einer ersten intensiven Chemotherapie und weiteren schwächeren Chemotherapien, die eventuell verbliebene Krebszellen bekämpfen und so einen Rückfall vermeiden sollen. Auch bei CML-Patienten mit einer Blastenkrise ist die Chemotherapie erste Wahl. In der Regel erhalten Patienten mit CML jedoch eine andere, zielgerichtetere Behandlung. Denn bei 95 Prozent von ihnen sowie auch einigen AML-Patienten lässt sich das „Philadelphia-Chromosom“ nachweisen, eine Translokation, bei der ein Teil von Chromosom 22 und Chromosom 9 gegeneinander ausgetauscht wurden. Hierdurch wird eine dauerhaft aktive Form des Enzyms Tyrosinkinase produziert, die die Vermehrung der Blasten vorantreibt. Daher kommt hier eine Dauerbehandlung mit Tyrosinkinase-Inhibitoren zum Einsatz, die die Aktivität des Enzyms hemmen und so die Krankheit in Schach halten.
Alternative: Stammzelltransplantation Handelt es sich um jüngere Patienten in gutem Allgemeinzustand oder spricht die Leukämie nicht auf eine Chemotherapie an, kann auch eine Stammzelltransplantation versucht werden. Dafür muss zunächst ein Spender gefunden werden, dessen Gewebemerkmale mit denen des Empfängers weitestgehend übereinstimmen, sodass Abstoßungsreaktionen minimiert werden. Da jedoch Millionen Kombinationen solcher Merkmale möglich sind, finden viele Betroffene keinen passenden Spender. Doch auch die Spende selbst ist für die Empfänger gefährlich. Denn vorher müssen die Zellen des Knochenmarks des Patienten durch eine hochintensive Chemotherapie zerstört werden, wodurch er gegen Infektionen nahezu wehrlos ist. Danach erhält der Patient Blutstammzellen des Spenders und damit auch ein neue Blutgruppe und ein neues Immunsystem.
Nächste Stufe Gentherapie? Im August 2018 wurde in Europa mit Tisagenlecleucel das erste CAR-T-Zell-Produkt für ALL zugelassen. Es handelt sich um Immunzellen, die dem Patienten entnommen und derart gentechnisch verändert wurden, dass sie nach der Reinfusion in den Körper ein bestimmtes Oberflächenmerkmal der Krebszellen erkennen und sie zerstören. Die Therapie ist jedoch nur für Patienten mit bereits mehrfach behandelten Tumoren zugelassen und kann gefährliche Nebenwirkungen haben. Trotzdem sind die Überlebensraten gut, sodass CAR-T-Zell-Therapien bei Leukämie künftig sicherlich eine wesentliche Rolle spielen werden.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/2020 ab Seite 106.
Dr. Holger Stumpf, Medizinjournalist