Perfektionismus
WENN 99 PROZENT NICHT GENUG SIND
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In der Familie, im Kollegium, im Freundeskreis: Überall gibt es Perfektionisten – jene extrem ehrgeizigen und erfolgsorientierten Zeitgenossen. Sie streben stets nach Höchstleistungen, setzen quer durch alle Lebensbereiche extrem hohe Maßstäbe und haben das Ziel, jede Aufgabe 100-prozentig, besser noch 120-prozentig zu erledigen. Ganz nach dem Motto: Das Beste ist gerade gut genug. Klar, dass übertriebener Ehrgeiz und vollkommen überzogene Ansprüche an sich selbst der Gesundheit nicht gut tun. Vor allem mit psychischen Erkrankungen wie Burnout, Ängsten, Zwangsstörungen und Depressionen müssen viele Perfektionisten früher oder später rechnen. Aber auch der Körper leidet massiv unter dem Leben unter Hochdruck: Schlafstörungen, Kopfschmerzen und Herzprobleme – verbissener Perfektionismus gleicht oft einem Generalangriff auf die Gesundheit.
Gesunder Ehrgeiz Die Auflistung der möglichen Folgen eines übersteigerten Perfektionismus legt die Vermutung nahe, dieses Persönlichkeitsmerkmal sei grundsätzlich negativ. Doch ganz so einfach ist es nicht, wissen Experten: Sie unterscheiden zwischen dem durchaus gesunden funktionalen Perfektionismus und seinem äußerst ungesunden Verwandten, dem dysfunktionalen Perfektionismus. Funktionaler Perfektionismus beschreibt den Wunsch und das Ziel, eine Sache sehr gut zu machen. Das heißt zum Beispiel: Sich anstrengen, gewissenhaft sein, sorgfältig arbeiten, sich mit Mittelmäßigem nicht gleich zufrieden geben. Beruhigend ist die Vorstellung, dass viele Menschen diesen Anspruch an sich haben: Wer möchte sich schon von einem Chirurgen operieren lassen, der nicht bestrebt ist, Höchstleistungen zu bringen? Oder mit einem Kreuzfahrtschiff in See stechen, das nicht von Perfektionisten konstruiert und gebaut wurde?
Gesunder Perfektionismus kann uns antreiben und ist ein Garant für Fortschritt. Viele Menschen, die außerordentlich erfolgreich sind und Spitzenleistungen bringen – egal ob im Sport, als Künstler, in der Wirtschaft oder am OP-Tisch – sind perfektionistisch veranlagt. Und viele technische und medizinische Errungenschaften des 21. Jahrhunderts gäbe es nicht, wenn sich Menschen stets mit Erreichtem zufrieden geben würden. Alles das zeigt: Sich verbessern zu wollen und hohe Ansprüche zu haben, ist völlig in Ordnung. Wichtig ist nur, dass man sich und seinen Mitmenschen dabei auch Fehler zugesteht. Gesunde Perfektionisten können ihre Erfolge genießen und haben keine übersteigerten Versagensängste.
Überzogene Erwartungen Und hierin unterscheiden sie sich von denjenigen, deren Persönlichkeit von krankhaftem Perfektionismus geprägt ist: Dysfunktionale Perfektionisten haben einerseits überzogen hohe, oft leider vollkommen unrealistische Ansprüche und Erwartungen an sich selbst, fürchten sich andererseits aber auch davor, Fehler zu machen und zu versagen. Das Fatale: Ihr Streben nach Vollkommenheit ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, da es perfekte, fehlerfreie Menschen nun einmal nicht gibt. Möglich ist es zwar, zu einem bestimmtem Zeitpunkt in einem bestimmten Lebensbereich etwas Außergewöhnliches zu leisten – etwa ein perfektes Menü zu kochen, eine fehlerfreie Prüfungsarbeit abzugeben oder eine sportliche Spitzenleistung zu erzielen – aber unmöglich ist es, dauerhaft und in allen Lebensbereichen makellos zu sein.
Krankhafte Perfektionisten leben in der ständigen Angst, etwas falsch zu machen, was sie enorm unter Druck setzt und nicht selten dazu führt, dass sie begonnene Arbeiten einfach nicht zu Ende bringen können. Kein Wunder, denn schließlich gibt es aus ihrer Sicht immer noch etwas, das verbessert werden muss. Mit äußerster Akribie suchen diese Perfektionisten nach eigenen – und oft auch nach fremden – Fehlern und kritisieren sich hart, wenn sie die selbst gesteckten Maßstäbe nicht erfüllen können. Erfolge genießen? Zufrieden mit Geleistetem sein? Sich nach einem erfolgreichen Tag entspannt zurücklehnen und sich belohnen? Für dysfunktionale Perfektionisten ist das meist undenkbar.
Geringes Selbstwertgefühl Was sich hinter diesem sehr anstrengenden und gesundheitsschädlichen Verhalten verbirgt, ist der Wunsch nach Anerkennung: Dysfunktionale Perfektionisten sind oft davon überzeugt, von ihren Mitmenschen nur dann geachtet, akzeptiert und gemocht zu werden, wenn sie selbst tadellos sind. In ihren Köpfen kursiert die Vorstellung, dass sie nur für ihre Leistung geschätzt werden, was die Furcht vor Fehlern immer weiter verstärken kann. Hinter der panischen Angst vor Ablehnung und extremen Versagensängsten steckt oft ein geringes Selbstwertgefühl. Betroffene sind davon überzeugt, wertlos zu sein, wenn sie unvollkommen sind. Der Grundstein für Perfektionismus wird schon in der Kindheit gelegt.
Perfektionisten wurde oft schon in sehr jungen Jahren von den Eltern vermittelt, dass im Leben vor allem eines zählt: die Leistung! Doch auch hier muss differenziert werden: Nicht jedes leistungs- und erfolgsorientierte Denken und Handeln im Elternhaus muss automatisch dazu führen, dass ein Kind ein geringes Selbstwertgefühl entwickelt und zum dysfunktionalen Perfektionisten heranwächst. Erfährt ein Kind gleichzeitig, dass es überhaupt nicht schlimm ist, Fehler zu machen, dass Misserfolge zum Leben gehören und die Zuneigung der Eltern nicht an Erfolge geknüpft ist, wird es später im Leben ebenfalls „gnädig“ mit sich sein können. Hingegen stellt die Kombination aus emotional kalter und zugleich stark leistungsorientierter Erziehung schon früh die Weichen für eine von dysfunktionalem Perfektionismus geprägte Persönlichkeit. Charakteristisch für diesen Erziehungsstil ist, dass das Kind nur dann mit Anerkennung und Aufmerksamkeit belohnt wird, wenn es die sehr hohen Erwartungen der Familie erfüllt.
Leben mit Dauerstress Dysfunktionale Perfektionisten leben gefährlich: Denn auf der Hand liegt, dass das Streben nach Vollkommenheit einen ungesunden Dauerstress erzeugt. Wer mit einer Aufgabe nie wirklich fertig wird, nicht abschalten kann und ständig unter Hochspannung steht, hat ein hohes Risiko, psychische und physische Erkrankungen zu entwickeln. Mitunter kommt es bei Betroffenen zu einem Burnout – einem Zustand starker emotionaler und körperlicher Erschöpfung durch chronische Überforderung. Denkbar ist es unter anderem auch, dass das überzogene Streben nach einem perfekten Körper in einer Essstörung mündet oder die Furcht vor Fehlern und persönlichem Versagen eine Angststörung nach sich zieht.
Die gute Nachricht: Es gibt viele Wege, um der Perfektions-Falle zu entkommen und Schritt für Schritt eine gesunde Einstellung zu Leistung, zu Erfolg und zu sich selbst zu entwickeln. Manch ein langjähriger Perfektionist ist dabei allerdings auf professionelle psychotherapeutische Hilfe angewiesen. Dysfunktionale Perfektionisten müssen beispielsweise lernen, sich trotz ihrer Schwächen und Fehler anzunehmen, sich von unrealistischen Erwartungen zu verabschieden und die kleinen Erfolge des Lebens bewusst zu genießen. Natürlich ist es nicht leicht, bisherige Denk- und Verhaltensmuster über Bord zu werfen, doch der Aufbruch zu neuen Ufern lohnt sich: Wer sich von übertriebenem Streben nach Vollkommenheit verabschiedet, wird dafür meist mit einem Plus an Gesundheit, Lebensqualität und Zufriedenheit belohnt.
Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 11/17 ab Seite 130.
Andrea Neuen, Freie Journalistin