Kolumne | Prof. Dr. Aglaja Stirn
UMGANG MIT GEFAHREN
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Wenn wir glauben, einen offenen Fluchtweg zu haben, neigen wir dazu zu fliehen. Sind wir „in eine Ecke gedrängt“, stellen wir uns der Gefahr und suchen den Kampf. Bei einigen Lebewesen kann diese Instinktreaktion durch einen Denkprozess „überstimmt“ werden; dann können sie es auch mit Bitten, Verhandeln oder Stillhalten versuchen. Was macht die Bedrohung mit unserem Körper? Sie versetzt uns in einen Alarmzustand; der Körper ist aktionsbereit oder stellt sich physiologisch darauf ein, mit Verletzungen umzugehen, etwa indem er die Blutgerinnung hochfährt oder die Schmerzempfindlichkeit reduziert. Das funktioniert wunderbar, solange die Zeitspanne zwischen Wahrnehmung einer Bedrohung und Auslösen der Situation nicht zu lang ist.
Was aber, wenn dieser Alarmzustand länger anhält – sagen wir, sechs Monate, oder ein Jahr, so wie jetzt gerade in der Pandemie? Egal, was unsere Vernunft uns sagt – im Hintergrund laufen die psychischen Alarmsirenen weiter und die körperlichen Reaktionen auch. Auch hierfür hat unser Gehirn Mechanismen parat. Entweder wir gewöhnen uns an die Gefahr oder blenden sie aus oder sagen uns, dass diese Gefahr gar nicht real ist, dass maßlos übertrieben wird. Wir bauen dazu einen Filter ein, der nur noch die Wahrnehmungen durchlässt, die unsere Annahme unterstützen. Dauerhaft erzeugt der „Kampf oder Flucht“-Mechanismus bei den meisten Menschen den Aufbau von Anspannung, die sich irgendwann entladen will.
Das kann in Form von kleinen Stößen sein – wir sind gereizter, reagieren empfindlicher auf Provokationen. Oder es gibt irgendwann einen großen Knall, bei dem wir komplett überreagieren. Und es gibt noch eine andere Möglichkeit, diese gespeicherte Energie irgendwohin loszulassen: Sie richtet sich nach innen gegen uns selbst, zerstört oder beschädigt uns. Doch Stress lässt sich auch anders kanalisieren und abbauen. Durch Bewegung oder körperliche Aktivität funktioniert das sehr gut, denn das ist genau das, was unsere biologische Ausstattung dafür vorgesehen hat. Was aber, wenn genau diese Art von Aktivität nicht möglich ist, weil Corona-Regeln sie verbietet? Dann können sich diese Energien beispielsweise gegen andere Menschen richten.
Wahrscheinlich hat schon jeder von uns wütende Gedanken gehabt, wenn er einem maskenlosen Menschen im Supermarkt oder in der Bahn begegnet ist – und nicht selten, ich würde sagen mit zunehmender Tendenz, führt dies dann auch zu wütenden Worten oder sogar zu Handgreiflichkeiten. Und fühlt sich das nicht gut an, irgendwie? Ich denke, in diesen Momenten erleben wir einen Hauch dessen, was im Mittelalter vielleicht geschehen ist, wenn man endlich seine Wut gegen etwas richten konnte, das es „verdient“ hat – Hexen, Andersgläubige... Auch die Debatte um Privilegien für Geimpfte hat Elemente einer Suche nach Entladung: Wenn es mir schlecht geht, ist der Anblick eines Menschen, dem es besser geht, eine Provokation. Rational wissen wir schon, dass es uns nicht besser gehen wird, wenn wir jemand anderem Grenzen auferlegen und wenn man sich ehrlich befragt, fühlt es sich auch nicht wirklich gut an.
Den Artikel finden Sie auch in DIE PTA IN DER APOTHEKE 06/2021 auf Seite 12.
Zur Person
Professor Dr. Aglaja Stirn ist Direktorin des Instituts für Sexualmedizin und forensische Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärztin für Psychosomatische Medizin, Gruppentherapie, Psychoanalyse und Sexualtherapie an der Universität Kiel, Zentrum für Integrative Psychiatrie ZIP. www.zip-kiel.de