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Berühmte Giftmorde

TOD DURCH NIKOTIN

1850 brachte der belgische Adlige Visart de Bocarmé seinen Schwager um. Er tat dies mit einer bis dato nicht nachweisbaren Substanz: Nikotin. Doch er hatte nicht mit einem findigen Gerichtsmediziner gerechnet.

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lles an Hippolyte Visart de Bocarmé war crazy: Schon seine Geburt 1818 auf einem Segelclipper am Kap der guten Hoffnung auf hoher See überlebte er nur knapp, weil sein Vater, der alte Graf, unbedingt mit der hochschwangeren Mutter nach Java reisen musste. So kam Hippolyte dann „unter dem Brüllen des Donners und der wütenden See“, wie er in seinem Tagebuch beschreibt, während eines Unwetters zur Welt. Als Jugendlicher lebte der Junge beim Vater in Arkansas (der dort zeitweise als Trapper arbeitete) und besah sich mit Interesse, mit welchen Substanzen die Indianer ihre Giftpfeile tränkten. Er legte schon früh ein gewisses morbides Interesse an den Tag: Früh übte sich, was ein erfolgreicher Mörder werden wollte.

Geldsorgen Zurück im heimischen Belgien, zog er mit seiner frisch angetrauten Frau auf das Familienschloss Bitremont. Lydia Fougnies, Tochter eines Kaufmanns und Apothekers, schien eine gute Partie und das Paar gönnte sich einen luxuriösen Lebensstil. Doch wer weiß, was Schlösser kosten, mag bereits das Unheil ahnen, das sich ankündigte: Bei all dem Prunk und Protz sollte auch noch die Immobilie, die vier Kinder und das Personal unterhalten werden – das Geld reichte einfach hinten und vorne nicht. Auch Lydias Mitgift war schnell verbraucht. Hoffnung keimte auf, als Lydias Vater starb. Doch der vererbte den größten Teil des Geldes an ihren Bruder Gustav. Da jener unter einer schlecht heilenden Beinamputation litt und sowieso ein wenig kränklich war, lehnte sich der Graf beruhigt zurück: Irgendwann würde er das Zeitliche schon segnen und da er unverheiratet war, würde die Schwester Lydia erben. Zur Sicherheit frischte Hippolyte noch einmal seine Kenntnisse über Giftpfeile auf und löcherte dazu einen etwas weltfremden Chemieprofessor aus Gent: Mit Hinweis auf die Erlebnisse seiner Jugend entlockte er ihm die Geheimnisse der Nikotinextraktion aus Tabakpflanzen. Der Graf machte dem Chemiker weis, dass er bald wieder einmal nach Amerika reisen und dabei ein Fläschchen des öligen Substrates mitnehmen wollte, als Gastgeschenk für seine Indianerfreunde.

Tabakpflanzen im Schlossgarten 1850 hatten die Geldsorgen des gräflichen Ehepaars derartige Ausmaße angenommen, dass der Bankrott drohte. Hippolyte kaufte auf Empfehlung des Professors diverse Glasapparaturen, eignete sich ein paar Kenntnisse über Säuren und Basen an, extrahierte fleißig das Nikotin aus eigens angebauten Tabakpflanzen und vergiftete schon einmal, nur zur Übung, zwei Katzen und zwei Enten. Es klappte tadellos. Im November desselben Jahres schlug die Nachricht wie eine Bombe ein, dass Gustav, der schwache Bruder der Gräfin Bocarmé, heiraten wollte. Und zwar schon sehr bald. Damit hatte Hippolyte nicht gerechnet. All das schöne Geld würde dann an die neue Ehefrau gehen! Zusammen mit seiner Gattin ersann er ein perfides Komplott, das er ja bereits bestens vorbereitet hatte.

In den Untersuchungsakten der Polizei ist alles vermerkt: Am 20. November 1850 erschien Gustav Fougnies auf Schloss Bitremont, um letzte Einzelheiten seiner Hochzeit, die in fünf Tagen stattfinden sollte, mit seinem Schwager und seiner Schwester zu besprechen. Merkwürdig: Der Graf wies an, dass die Bediensteten draußen bleiben sollten, die Gräfin wolle selbst servieren und die Kinder sollten in der Gesindeküche essen. Alsbald drang ein grässliches Röcheln und Stöhnen durch die Tür zum Speisesaal. Später wurde die Tür aufgerissen und dem Personal mitgeteilt, Gustav habe der Schlag getroffen. Während sich Graf Bocarmé die blutigen Hände in einer Zimmerecke wusch, orderte die Gräfin Essig aus der Küche. Und diesen Essig trichterten sie dann dem reglos am Boden liegenden Körper ein – bis sich das Küchenmädchen schließlich weigerte, an dem merkwürdigen Treiben weiter teilzunehmen.

Nikotinvergiftungen äußern sich durch Schwindel, Speichelfluss, Übelkeit, Erbrechen, Kopfschmerzen und Herzrasen.

Schwarzgraue Substanz Recht schnell war die Polizei vor Ort. Der Untersuchungsrichter beauftragte einen Gerichtsmediziner, den Chemiker Jean Servais Stas, eine toxikologische Untersuchung vorzunehmen. Noch im Schloss wurde der Leichnam obduziert. Mit den entnommenen Organen und Proben der Köperflüssigkeiten und des Mageninhaltes schloss sich der Chemiker wochenlang im Labor ein. Wie besessen tüftelte er, um das Geheimnis der schwarzgrauen Substanz herauszufinden, die sich jeweils am Boden der Gefäße ansammelte: Schwefelsäure? Konnte es nicht sein. Essig? Es roch zwar danach, aber daran sterben konnte man doch wohl nicht. Stas kochte die verdächtige Flüssigkeit ein, füllte sie mit Alkohol auf, fügte Kali hinzu. Aufgrund des fürchterlichen Geruches vermutete er zunächst Coniin, das stark nach Mäuseurin riecht. Doch auf das Olfaktorische wollte Stas sich nicht allein verlassen, und drum hielt er nach Zugabe von Ether ein Lackmuspapier in die Tunke: Das färbte sich blau. Ein basischer Stoff! Essig schied aus, das war demnach als falsche Spur gelegt worden. Nach Zugabe von Schwefelsäure ergab die Probe eine Art Sirup, die eindeutig nach Tabak roch. Stas hatte Nikotin nachgewiesen.

Der Graf und die Guillotine Um seine These zu stützen, vergiftete Stas dann noch einen Hund im Dienste der Wissenschaft. Als der Untersuchungsrichter die Ergebnisse des Chemikers erhielt, ordnete er umfassende Nachforschungen an: Im Eichenholz des Fußbodens im Speisesaal fanden sich Tropfen flüssigen Nikotins, das dem Schwager während des Essens mit brachialer Gewalt oral eingeflößt worden war. Die beiden toten Katzen und die Enten wurden ausgegraben und ebenfalls obduziert. Der Gärtner berichtete von Experimenten seines Herrn mit Tabakpflanzen, der Professor aus Gent erzählte erschüttert von seinen Treffen mit Bocarmé, deren Sinn und Zweck ihm jetzt erst offenbar wurden. Und dann fand man auf dem Dachboden des Schlosses auch noch die Apparaturen, mit denen der Extrakt hergestellt worden war: Der Graf war überführt. Seine Frau konnte sich noch mit der gewalttätigen, manipulativen Art ihres Gemahls herausreden und wurde freigesprochen – doch Hippolyte Visart de Bocarmé landete am 19. Juli 1851 auf der Guillotine.

Stas-Otto-Trennungsgang Jean Servias Stas hingegen wurde unsterblich: Seinen „Stas-Otto-Trennungsgang“ müssen bis heute alle Chemie- und Pharmaziestudenten büffeln. Der basiert auf der Idee, dass Substanzen von anderen Substanzen aufgrund ihrer Säure/Base-​Eigenschaften zu separieren sind. Die Reinsubstanzen wurden 1850 noch mit der „Schnüffelprobe“ klassifiziert; heute übernehmen das moderne Analysegeräte, die jeden Stoff anhand seiner exakten Molekülmasse identifizieren können. Der Fall Bocarmé bleibt ein Meilenstein in der Toxikologie und der Kriminalgeschichte und ist – natürlich – mehrfach verfilmt und literarisch bearbeitet worden. 

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 04/19 ab Seite 106.

Alexandra Regner, PTA und Journalistin

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