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Psychologie in der Apotheke

SOZIAL ÜBERLASTET

Sozialer Stress ist allgegenwärtig: Ob bei der Arbeit oder im Privatleben, überall begegnet man ihm. Auf Dauer kann er zu ernsthaften psychischen Problemen wie Schlafstörungen, Ängsten oder Depressionen führen.

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Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Stress zu einer der größten Gesundheitsgefahren des 21. Jahrhunderts erklärt und spekuliert, dass im Jahr 2020 jede zweite Krankmeldung auf diese Ursache zurückzuführen ist. Heutzutage scheinen es häufig psychosoziale Auslöser zu sein, die das körperliche System aktivieren und den Menschen anfällig für stress-assoziierte Erkrankungen machen.

Individuum – Beziehungen – Umwelt Der Mensch ist ein soziales Wesen und auf den Kontakt und die Gemeinschaft mit seinen Mitmenschen angewiesen. Er lebt im ständigen Wechselspiel mit verschiedenen Personen sowie mit der Umwelt – Störungen in diesem System können gravierende Folgen haben. Die Gegenwart anderer hat somit nicht nur positive Auswirkungen, denn es ist anstrengend, sich ständig anzupassen und zu reagieren. Viele Stressoren des Alltags sind folglich sozialer Natur, sie entstehen vor allem, wenn ein Individuum seine Position in einer Gruppe oder in einer Beziehung zum Beispiel durch Konflikte, Ausgrenzung oder mangelnde Anerkennung in Gefahr sieht.

Früher waren es Hunger, Kälte oder Verletzungen, die Stress ver- ursachten, heute sind es Leistungs- und Termindruck, Doppelbelastungen durch Beruf und Familie, Bewegungsmangel, Zukunftsängste, Multitasking oder die Dauererreichbarkeit durch die Digitalisierung. Eine gestörte Kommunikation, die zu Missverständnissen führt, unterschiedliche Wertesysteme, Mobbing, Macht-Konflikte am Arbeitsplatz oder Gewohnheiten wie nicht „Nein-sagen-können“ schaffen Unzufriedenheit bis hin zu sozialem Druck.

Körperliche Reaktion Das biologische Stresssystem ist lediglich auf kurz andauernde, heftige Gefahrensituationen ausgerichtet: Begegneten unsere Vorfahren beispielsweise einem Bären, befähigten die ausgeschütteten Stresshormone wie Adrenalin oder Cortisol sie da- zu, zu flüchten oder zu kämpfen. Die Verdauung stagnierte, die Muskulatur spannte sich an und die Atem- und Pulsfrequenz nahmen zu, danach gelangte der Organismus wieder in seinen entspannten Ursprungszustand zurück. Die gleiche Reaktion läuft auch bei sozialen Belastungen ab, daher ist man heutzutage permanent einem Cocktail an Stresshormonen ausgesetzt, der das System überlastet.

Hinzu kommt, dass man die „Stressenergie“ oft nicht ausreichend abbaut, indem man sich körperlich abreagiert. Die Stresshormone werden viel langsamer abgebaut und wirken sich negativ auf die Gesundheit aus. Folgen sind unter anderem Rückenschmerzen, Verspannungen, Burnout, Migräne, Tinnitus, Alkohol- und Drogenmissbrauch oder Magenprobleme. In sozialen, chronischen Stresssituationen sind bestimmte Immunogene dauerhaft ab- oder angeschaltet, sodass auch Leiden wie Arteriosklerose oder Diabetes mellitus resultieren können.

Stress aus Empathie Forscher fanden heraus, dass nicht nur die Personen, die aktiv mit dem Stressor konfrontiert wurden, eine physiologische Stressantwort zeigten, sondern auch Beobachter der entsprechenden Zielperson. Stress ist demnach ansteckend und vermittelt die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol, vorausgesetzt Menschen verfügen über ein feines Gespür für die Befindlichkeiten ihrer Interaktionspartner. Darüber hinaus scheint es eine Rolle zu spielen, wie nah die gestresste Person einem steht, wobei sich die Anspannung bei engen Bezugspersonen leichter überträgt als bei fremden Menschen.

Hektik in der Stadt Sozialer Stress hängt zudem mit der zunehmenden Urbanisierung zusammen: Etwa die Hälfte der Menschen weltweit lebt in Städten, im Jahr 2050 sollen es sogar 70 Prozent sein. Hier sind es Staus, Lärm, Hektik, Anonymität, hohe Mobilitätsanforderungen, Enge, Gewalt, Isolation oder die hohe soziale Dichte, welche das Wohlbefinden beeinträchtigen. Mehr als doppelt so häufig entwickeln Stadtmenschen in ihrem Leben eine Schizophrenie und haben ein etwa 40 Prozent höheres Risiko an Depressionen zu erkranken als Landbewohner. Auch der Verkehr macht den Menschen zu schaffen: Autofahrer sind besonders gestresst, insbesondere wenn sie in der Rush Hour unterwegs sind, während Personen, die zu Fuß gehen, das Fahrrad oder die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen, glücklicher sind.

Trotz der höheren sozialen Dichte kommt es in Städten häufiger zur sozialen Isolation. Durch die große Anzahl an fremden, geschäftigen Menschen entwickelt sich ein Gefühl der Einsamkeit. Städter verfügen über ein geringeres soziales Netzwerk, sie kennen häufig weder ihre Nachbarn noch würden sie ihnen einen Gefallen tun – anders sieht es auf dem Lande aus. In der Stadt erlebt man oftmals negative soziale Interaktionen und begegnet nur wenigen Personen, die eine positive Einstellung der eigenen Person gegenüber aufweisen, sodass Städter misstrauischer sind und auf Kontakt zu Fremden verzichten. Dieser Trend wird durch die permanente Nutzung des Smartphones noch verstärkt.

Gesunde Städte Grün- und Wasserflächen oder eine Nachbarschaft, die Einsamkeit verhindert, machen Großstädte „gesünder“. Auch Wohlstand, ein besserer Zugang zu Bildung sowie eine optimale Gesundheitsversorgung zählen zu den positiven Aspekten von Städten. Für gestresste Menschen empfiehlt es sich, ruhige Orte wie Museen oder Parks zur Erholung auszusuchen.

Schutz vor sozialem Stress Mit Maßnahmen wie Entspannungstechniken, positiven Selbstinstruktionen, Zeitmanagement, stressausgleichenden Aktivitäten (wie Sport oder Wellness) oder der Methode der positiven Affektgenerierung können Betroffene dem Stress begegnen und zur eigenen Gesunderhaltung beitragen. Das Selbstinstruktionstraining zielt darauf ab, Gestressten eine Form der Autokommunikation zu vermitteln, die einen belastenden durch einen hilfreichen Gedanken ersetzt (statt: „Person XY kostet mich den letzten Nerv.“ besser: „Person XY ist ein gutes Training für meine Geduld.“). Bei dem Verfahren der positiven Affektgenerierung erlernen die Teilnehmer, Fremden mit einer positiven Einstellung zu begegnen und ihnen gegenüber ein Gefühl der Zuneigung zu entwickeln, indem sie beispielsweise an eine Person denken, die ihnen nahe steht.

Gute Sozialkontakte bewahren ebenfalls vor Problemen – damit sind nicht zahlreiche Follower auf Instagram oder anderen sozialen Netzwerken gemeint, sondern zuverlässige Freunde aus dem wirklichen Leben. Um sich von der Anspannung zu befreien, sollten Kunden außerdem den Gedanken loslassen, auf jeder Hochzeit mittanzen zu müssen. Es ist von immenser Bedeutung, Zeit mit sich selbst zu verbringen, denn Alleinsein kann helfen, sich auszuhalten und Krisen zu bewältigen. Ohnehin nimmt die Anzahl der Sozialkontakte im Laufe des Lebens bei den meisten Menschen automatisch ab, sodass es gezwungenermaßen Situationen geben wird, in denen man alleine ist. Wer Alleinsein nicht gelernt hat und sich gleich einsam fühlt, hat es erheblich schwerer.

Den Artikel finden Sie auch in die PTA IN DER APOTHEKE 09/19 ab Seite 26.

Martina Görz, PTA, M.Sc. Psychologie und Fachjournalistin

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