Das Gehirn behält die Kontrolle – bis zum Querschnitt…
REFLEXE AUSSER KONTROLLE
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Kennen Sie das auch? Es ist ein Ereignis, wie es einschneidender kaum sein könnte: Die Querschnittslähmung in Folge eines Unfalls mit Durchtrennung des Rückenmarks. Selbst Menschen, die es gewohnt waren, körperliche Höchstleistungen zu vollbringen, sind vom einen auf den anderen Tag an den Rollstuhl gefesselt, können ihre Gliedmaßen unterhalb der Verletzung weder willkürlich bewegen noch spüren. Betroffen ist dabei nicht nur die Skelettmuskulatur, sondern auch viele vegetative Funktionen wie Stuhlgang, Blasenentleerung oder Sexualität.
Obwohl solche Verletzungen bis zum heutigen Tag irreversibel sind, können einige dieser Funktionen doch in gewissem Umfang wiedererlangt bzw. neu erlernt werden. Dabei kommt dem Rückenmark eine Schlüsselrolle zu. Wieso? Im Rückenmark als Teil des zentralen Nervensystems sind Neurone zu einer Reihe von Reflexwegen verschaltet: Sensible Informationen aus der Peripherie werden hier teilweise direkt auf Motorneurone umgeschaltet, sodass sich etwa ein Muskel bei Dehnung reflexartig zusammenzieht , ohne dass es dazu einer Beteiligung des Gehirns bedarf.
Neben solchen Schutzreflexen spielen Reflexe aber auch eine wichtige Rolle beim aufrechten Gang. Die Motorprogramme des Rückenmarks sind dabei so komplex, dass etwa eine querschnittsgelähmte Katze nach einiger Zeit wieder nahezu normale, rein rückenmarksgesteuerte Gehbewegungen an den Hinterbeinen zeigen kann. Allerdings fehlt die Koordination mit den Vorderbeinen, da hierzu die Kontrolle der absteigenden Nervenbahnen aus dem Gehirn nötig ist.
Bei Primaten und damit auch dem Menschen nun ist diese absteigende Kontrolle besonders stark ausgebildet und ihr Wegfall hat für den Patienten daher zunächst einen völligen Ausfall aller motorischen und vegetativen Reflexe zur Folge (Querschnittsareflexie, spinaler Schock), da die erregenden Eingänge aus dem Gehirn fehlen. Nach ein bis sechs Monaten jedoch verschwindet diese Symptomatik: Nach und nach sinken die Schwellen zur Auslösung der spinale Reflexe, sodass das Rückenmark autonom Bewegungen erzeugen kann.
Dies geht so weit, dass bereits leichte Berührungen ausreichen, um langanhaltende Beugereflexe auszulösen (Querschnittshyperreflexie). Diese Reflexe kann sich der Patient dann zunutze machen, um etwa das kontrollierte Entleeren der Blase wiederzuerlernen. Freilich ist dies keine echte Heilung: Das Rückenmark bleibt zertrennt. Echte Heilung erhofft man sich von neuen Therapieansätzen, bei denen neuronale Stammzellen oder bestimmte Signalproteine (Neurotrophine) in die verletzte Rückenmarksregion eingebracht werden, wo sie neues Nervengewebe bilden, noch vorhandenes wachsen lassen bzw. dessen Absterben verhindern sollen, um so die zerstörten Nervenbahnen wiederherzustellen.
Neueste Erfolge an Primaten lassen hoffen, dass derartige Therapieansätze schließlich auch für die Behandlung von menschlichen Patienten zur Verfügung stehen werden. Und irgendwann einmal, hoffentlich, kennen wir das dann auch…
ZUR PERSON
Prof. Dr. Holger Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de
Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg. Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de
Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 02/11 auf Seite 12.
Holger Schulze