Es war der größte Arzneimittelskandal in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland: Vor sechzig Jahren begann die Gerichtsverhandlung gegen den Hersteller des Schlafmittels Contergan. © AndreyPopov / iStock / Getty Images Plus

Contergan

EINE EINZIGE TABLETTE REICHTE

Im Frühsommer 1968, also vor 50 Jahren, startete das Hauptverfahren gegen die Firma Grünenthal aus Stolberg, die ein paar Jahre zuvor ein Schlafmittel auf den Markt gebracht hatte, das traurige Berühmtheit erlangte: Contergan.

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Als Contergan – in der Schweiz hieß es Softeneon – auf den Markt kam, galt es als supersicher, gerade für Schwangere. Es wurde gepriesen als Mittel gegen die Morgenübelkeit, als nebenwirkungsfreies Sedativum und wurde millionenfach verschrieben.

Wie war man darauf gekommen? Eigentlich suchten drei Wissenschaftler aus der Forschungsabteilung von Grünenthal eine preiswerte Methode zur Gewinnung eines Antibiotikums – als die Versuchstiere nach Gabe des Wirkstoffes Thalidomid aber immer einschliefen, richteten sie ihr Augenmerk auf die sedierende Wirkung. Bei Versuchen mit nicht trächtigen Tieren zeigte sich, dass er anscheinend keine Nebenwirkungen besaß und selbst hohe Dosen diese nicht umbrachten – was als Erfolg gefeiert wurde: Thalidomid erhielt den Markennamen Contergan, und da es als untoxisch galt, kam es am 1. Oktober 1957 in die Apotheken – von Industrie und Ärzteschaft gezielt empfohlen als rezeptfreies Beruhigungs- und Schlafmittel für Schwangere. Kein BfARM erhob Einspruch, denn das gab es damals noch nicht, noch nicht einmal ein Bundesgesundheitsministerium.

Millionen von Schwangeren schluckten damals die angeblich so sicheren Tabletten. Taten sie das zwischen dem 34. und 37. Tag nach der letzten Regelblutung, fehlten den Kindern nach der Geburt die Ohrmuscheln, zwischen dem 35. und 41. Tag kam es zu Fehlbildungen am Daumen, zwischen dem 38. und 45. Tag traten verkümmerte oder fehlende Arme auf, bis zum 47. Tag waren auch die Beine oder Füße betroffen.

Eine einzige Tablette reichte.
1958 diskutierte der Deutsche Bundestag erstmals über die steigende Anzahl von Fehlbildungen bei Kindern; man brachte die damals noch neuen Kernwaffentests damit in Verbindung und ließ das Thema fallen. 1961 schlug der erste Arzt Alarm, es folgten weitere, dann stand fest: Thalidomid verursacht Fehlbildungen beim Embryo, wenn es zu einer bestimmten Zeit in der Schwangerschaft eingenommen wird. Kurz war Contergan noch auf Rezept erhältlich, dann nahm das produzierende Unternehmen es vom Markt. Am 27. November 1961 wurde die letzte Packung aus den Apotheken geräumt. Weltweit werden später rund 10 000 Kinder mit einer Fehlbildung der Gliedmaßen geboren worden sein, 5000 davon in Deutschland.

1961 war auch das Jahr, in dem das Bundesgesundheitsministerium gegründet wurde. Und nach dem Prozess gegen die Hauptverantwortlichen des produzierenden Unternehmens, der 1970 wegen „geringfügiger Schuld der Angeklagten und mangelnden öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung“ eingestellt wurde, sollte nie wieder ein Arzneimittel auf den Markt kommen, das die umfangreichen Prüfungen und Vorgaben des Bundesinstitutes für Arzneimittel und Medizinprodukte nicht bestanden und durchlaufen hat. Die herstellende Firma hat für die Contergan-Geschädigten nach Einstellung des Prozesses eine Stiftung gegründet, die für eine zusätzliche Rente der Opfer sorgte. Als die Stiftungsmittel erschöpft waren, füllte die Bundesregierung den Fonds wieder auf.

Thalidomid, das Teufelszeug
Es sollte länger dauern, bis Thalidomid wieder in den Handel gelangte, natürlich niemals wieder unter seinem alten Markennamen und unter strengen Auflagen. Eigens für den Wirkstoff ist das T-Rezept erfunden worden, das mittlerweile auch für Pomalidomid und Lenalidomid gilt. Ähnlich aufgebaut wie das BTM-Rezept, hat es einige Besonderheiten. Für Frauen im gebärfähigen Alter darf nur der Bedarf von vier Wochen verordnet werden; bei allen anderen Frauen und Männern geht er bis zwölf Wochen. Es enthält Kästchen zum Ankreuzen, wodurch vom verschreibenden Arzt unter anderem die Einhaltung der gesetzlich vorgegebenen Sicherheitsbestimmungen bestätigt wird – unter anderem ein Schwangerschafts-Präventionsprogramm. Die nummerierten Rezepte, deren Durchschlag an das BfARM zu übermitteln ist, dürfen ausschließlich Arzneimittel mit oben genannten Wirkstoffen enthalten.

Doch warum wird Thalidomid weiterhin verordnet?
In klinischen Studien zeigte es eindeutige antiinflammatorische, antineoplastische (tumorhemmende) und antiangionetische (Verminderung von Gefäßneubildung) Effekte. Thalidomid wird erfolgreich weltweit zur Bekämpfung der Lepra eingesetzt sowie als Therapie gegen das multiple Myelom, da es die Neubildung von Tumoren hemmt. Auch beim Myelodysplastischen Syndrom und als immunmodulierendes und –suppressives Mittel bei Morbus Crohn wird Thalidomid verwendet. Denn die fruchtschädigende Wirkung des Racemates mit der Summenformel C13H10N2O4 ist nur die eine – es hindert auch Blutgefäße am Wachsen und schneidet die Blutzufuhr von Tumoren ab, lässt diese damit „verhungern“. Für die krebsforschende Pharmaindustrie ist Thalidomid ein Glücksfall.

Contergan heute
Die Opfer des größten Arzneimittelskandals der Bundesrepublik Deutschland sind heute im Rentenalter. Sie haben im Laufe ihres Lebens nicht immer die besten Erfahrungen mit Ärzten gemacht, was zu einem gewissen „Arztvermeidungsverhalten“ geführt hat, sagt Dr. Rudolf Beyer von der Contergan-Sprechstunde der Schön Klinik Stiftung für Gesundheit in Hamburg. Denn neben den offensichtlichen sind mitunter auch innere Organe und das Nervensystem geschädigt. Die lebenslange körperliche Integrationsleistung führt zu einer massiven Degeneration der Bänder, Knochen und Gelenke. Leiden die Patienten unter zu kurzen Armen, haben sie auch chronisch überlastete Schultergürtel und fast immer ein Karpaltunnelsyndrom und Arthrose in den vorhandenen Fingern. Hüftdysplasien sind häufig, Physio- und Ergotherapie ist schwierig. Ein operativer Gelenkersatz wird aufgrund der eingeschränkten Rehabilitationsmöglichkeiten nur spät und vorsichtig vorgenommen.
Wie alle anderen, leiden auch Contergan-Opfer unter Herz-Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen oder Diabetes. Oft gibt es eine unerkannte Hypertonie – unerkannt deshalb, weil eine Riva-Rocci-Messung bei Menschen ohne Arme natürlich schwierig ist. Dr. Beyer empfiehlt eine Messung am Knöchel über der Arteria tibialis posterior – doch es muss dabei ein bestimmter Korrekturfaktor verwendet werden. Auch kardiovaskuläre Erkrankungen sind bei den Contergan-geschädigten Menschen überdurchschnittlich hoch – was unter anderem daran liegt, dass Bewegung und Sporttreiben für sie sehr schwierig ist.

Das erste Contergan-Opfer war übrigens das Kind eines Grünenthal-Mitarbeiters. Er hatte das Präparat aus dem Labor mit nach Hause genommen und es seiner schwangeren Frau gegeben. Sein Kind kam ohne Ohrmuscheln auf die Welt.

Alexandra Regner,
PTA / Redaktion

Quelle: Medical Tribune
   Spiegel online

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