Denkerpose © bowie15 / iStock / Thinkstock

Sprache ist eine wesentliche menschliche Eigenschaft.

MIT DEN AUGEN HÖREN

Sprachliche Kommunikation ist eine zentrale Voraussetzung unserer sozialen und kulturellen Grundlagen.

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Kennen Sie das auch? Auf einer Cocktailparty können Sie wegen des Lärms der Umstehenden nicht genau hören, was ihr Gegenüber gerade sagt, aber wenn Sie sich auf seine Lippenbewegungen konzentrieren, können Sie die Worte auf einmal doch ganz gut verstehen. Oder Sie verfolgen eine Nachrichtensendung und der Kommentar eines fremdsprachigen Redners wird simultan von einem unsichtbaren Dolmetscher übersetzt. Wenn Sie der fremden Sprache mächtig sind und auf die Lippenbewegungen im Bild achten, dann verstehen Sie mitunter, was im Original gesagt wurde, und vielleicht sogar, dass der Dolmetscher gar nicht wörtlich, sondern nur sinngemäß übersetzt hat.

In solchen Situationen erleben Sie die Fähigkeit Ihres Gehirns, den visuellen Eindruck der Lippenbewegungen eines Sprechers zum Sprachverstehen mit zu nutzen. Diese Leistung ist also keineswegs auf Gehörlose beschränkt, wir alle sind dazu in der Lage, wenn auch üblicherweise in geringerem Maße. Insbesondere in Situationen, in denen die akustische Sprachinformation nur lückenhaft zur Verfügung steht, nutzt das Gehirn jede Zusatzinformation, um den Inhalt des Gesagten verstehen zu können. Hierbei kann es sich um Kontext handeln, früheres Wissen oder eben auch visuelle Erfahrungswerte über die Lippenbewegungen.

Die Fähigkeit des Gehirns, akustische und visuelle Informationen gemeinsam zur Lösung einer Aufgabe, in diesem Fall dem Verstehen von Sprache, zu nutzen, ist ein besonders eindrucksvolles Beispiel für audio-visuelle Integration. Noch interessanter aber wird das Ganze, wenn der visuelle Eindruck etwas anderes übermittelt als der akustische Informationskanal. Dann kann es zu Wahrnehmungen kommen, die weder dem einen noch dem anderen entsprechen, wie beim sogenannten McGurk-Effekt: Betrachtet man einen Video einer Person, die die Silbe „ga” spricht und unterlegt diesen Video mit der gesprochenen Silbe „ba”, so hören die meisten Menschen die Silbe „da”, obwohl diese weder akustisch noch visuell präsentiert wurde.

Mit verantwortlich für diesen Effekt ist ein Bereich im superioren temporalen Sulcus der linken Hirnhälfte, der besonders bei Personen aktiviert wird, die den McGurk-Effekt wahrnehmen. Dabei lehrt uns diese erstaunliche Illusion zweierlei: Zum einen, das das Gehirn immer versucht, alle ihm zur Verfügung stehenden Informationen zu nutzen, um zu einer sinnvollen Interpretation der Welt zu kommen.

Zum anderen aber eben auch, dass das, was wir wahrnehmen, eben immer nur diese Interpretation der Welt durch unser Gehirn ist und nicht die Welt selbst – und dass deshalb unsere Wahrnehmung der Welt auch falsch sein kann. Widersprüchliche Zeugenaussagen vor Gericht bestätigen dies Tag für Tag. Trotzdem funktioniert es meistens ganz gut mit der audio-visuellen Integration, denn glücklicherweise ist unser Gehirn so lernfähig, dass es sogar gelernt hat, sich von den „falschen” Lippenbewegungen in synchronisierten fremdsprachigen Filmen nicht mehr verwirren zu lassen – das kennen Sie doch sicher auch …

ZUR PERSON

Prof. Dr. Holger Schulze
Hirnforscher
Holger.Schulze@uk-erlangen.de

Prof. Dr. Schulze ist Leiter des Forschungslabors der HNO-Klinik der Universität Erlangen-Nürnberg
sowie auswärtiges wissenschaftliches Mitglied des Leibniz-Instituts für Neurobiologie in Magdeburg.
Seine Untersuchungen zielen auf ein Verständnis der Neurobiologie des Lernens und Hörens.
www.schulze-holger.de

Den Artikel finden Sie auch in Die PTA IN DER APOTHEKE 10/12 auf Seite 12.

 


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